"Ich bin ein Kind des Fernsehzeitalters"

■ Ein Gespräch mit dem amerikanischen Autor Stewart O'Nan über seinen Roman "Engel im Schnee", über saftige Charaktere und gute Bücher, die 70er Jahre und den Vietnamkrieg, über Kurt Cobain, echte Ge

taz: „Engel im Schnee“ ist kein nostalgisches Buch, sondern eins der schmerzhaften Erinnerungen. Ist das eine Aufgabe der Literatur, Erinnerungen vor der Verklärung zu schützen?

Stewart O'Nan: Auf jeden Fall. Literatur sollte nicht nur die Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern jede Sicht auf diese Welt davor bewahren, nostalgisch oder sentimental zu werden. Sie soll zeigen, wie die Welt und die Menschen wirklich sind – nicht die Wirklichkeit verzerren. Schreibend kann man zu einer Wahrheit durchdringen, zu der wir auf keinem anderen Weg gelangen.

Wann gelingt Ihnen das?

Das liegt hauptsächlich in der Art begründet, wie die Charaktere in meinen Romanen miteinander umgehen, wie ihre Leidenschaften aufeinanderprallen. Wie sie scheitern und wie sie in Beziehung zueinander treten. Dort, zwischen den Charakteren eines Dramas, findet sich die Wahrheit. Mir geht es immer um die Figuren, nicht um literarische Themen oder so etwas. Die ergeben sich von allein. Wenn man saftige Charaktere hat, hat man auch ein gutes Buch.

Was hat Sie bei der Entstehung von „Engel im Schnee“ beeinflußt?

Ich bin ein Kind des Fernsehzeitalters: Fernsehen, Kinofilme, Comics, Cartoons haben mich beeinflußt. Wichtige Schriftsteller waren Tschechow, vielleicht Tolstoi, Virginia Woolf. Ganz bestimmt Salinger: Wenn man versucht, etwas Wahres darüber zu schreiben, wie ein Mensch aufwächst, gibt es nicht viele andere Vorbilder. „Engel im Schnee“ ist gewissermaßen meine Reaktion auf die Teenagerfilme der 80er Jahre: Die waren derartig nervtötend schlecht, lieferten eine so verzerrte Sicht auf die Situation Heranwachsender in Amerika, daß ich versuchte, etwas zu schreiben, was mehr der Realität entspricht.

Zu „Engel im Schnee“ gehört ein 70er-Jahre-Soundtrack: Der junge Arthur versteckt sich unter seinen Kopfhörern vor der erwachsenen Welt und hört Led Zeppelin, Jimi Hendrix, The Who. Warum haben Sie das Buch einem Musiker einer ganz anderen Generation gewidmet – Kurt Cobain?

Kurt Cobain schreibt in seinen Songs über die gleiche schwierige Art von Gefühlen, mit denen Arthur, Annie und Glenn in diesem Roman beschäftigt sind. Da geht es um die härteren Gefühle im Leben: Enttäuschung, Kummer, Angst, Verzweiflung, Ekel, Selbstekel. Kurt Cobain hat das auf eine sehr echte Art rübergebracht. Und bestimmt war er seit Jahren der einzige Musiker, der sich überhaupt getraut hat, diese Gefühle auszudrücken und sich dazu zu bekennen.

Am Ende von „Engel im Schnee“ fühlt man sich makaber an Cobains Selbstmord erinnert: Nachdem er seine Tochter verloren und seine Frau umgebracht hat, schießt Glenn sich mit einem Schrotgewehr den Kopf weg. War Cobain bereits tot, als Sie diesen Schluß schrieben?

Nein. Kurz nachdem ich „Engel im Schnee“ fertiggeschrieben hatte, hörte ich von seinem Tod. Es hat mich ziemlich getroffen: In diesem Moment dachte ich, daß ich mein Buch Cobain widmen sollte.

Der soziale und politische Hintergrund bleibt bei „Engel im Schnee“ relativ blaß – zumindest für den deutschen Leser. Man spürt die Atmosphäre der Depression in den frühen 70ern, ohne daß sie wirklich thematisiert wird, und auch der gerade beendete Vietnamkrieg kommt kaum vor.

Ich wollte auf jeden Fall einen Roman schreiben, der in dieser Zeit spielt. Der Vietnamkrieg wird am Anfang kurz erwähnt, er initialisiert die Erzählung, setzt ihre Bedingungen: post Vietnam, post Watergate, post 60er. Der ganze Aufruhr, der Optimismus ist verbraucht, die Wirtschaft des Landes fällt auseinander. Pennsylvania, wo „Engel im Schnee“ spielt, ist politisch nicht besonders aktiv. Es ist ganz natürlich, daß dort keine großen politischen Diskussionen zwischen den Leuten ablaufen.

Was bedeutet der Vietnamkrieg für Ihre Generation, die Thirtysomethings?

Gar nichts. Meine Generation denkt über Vietnam nicht nach. Niemand denkt an Vietnam – außer den Veteranen. Die Menschen wollen den Krieg vergessen. Aber es waren drei Millionen Männer und Frauen an diesem Krieg beteiligt, deren Leben massiv beeinflußt wurde – und das ihrer Familien. Das ist eines der Hauptprobleme Amerikas, aber niemand will sich damit auseinandersetzen.

Wann hat das Vergessen eingesetzt? In den 80ern gab es ja noch die großen Hollywoodfilme, die sich mit dem Vietamkrieg beschäftigt haben.

Das war die zweite Welle von Vietnamfilmen: 1986 „Platoon“, 1987 „Full Metal Jacket“. Unter der Reagan-Administration war es zu einem ganz plötzlichen Vietnam-Boom gekommen. Die öffentliche Meinung änderte sich. In den 70ern war der Vietnamveteran gefährlich, brutal, psychotisch. In den 80ern, als Reagan an die Macht kam, wurde der Vietnamkrieg, in seinen Worten, zu einer „edlen Tat“. Dem Veteranen wurde gedankt, er wurde geehrt.

Als Reaktion darauf gab es die Filme von Oliver Stone und Stanley Kubrick. Aber das war's dann auch. Man hört nichts mehr über den Preis, den die Menschen für diesen Krieg zahlen mußten: die Amerikaner, die Vietnamesen in Nord- und Süd-Vietnam. Eine Million Vietnamesen sind in dem Krieg umgekommen – und in Amerika praktisch vergessen worden.

Ihr zweites, in den USA erschienenes Buch handelt vom Vietnamkrieg.

In „The Names of the Dead“ geht es um einen Vietnamveteranen, um seine „tour of duty“ in Vietnam in den Jahren 68 und 69 und dann, 1982, um die Einweihung des „Vietnam War Memorials“ in Washington D.C. Das ist ein Anlaß, um über amerikanische Geschichte nachzudenken, aber auch hier ist der Hintergrund zweitrangig für die eigentliche Erzählung. Es geht um die Figur dieses Veteranen und die Art, wie mit Erinnerungen umgegangen wird.

Quentin Tarantinos Produktionsgesellschaft hat die Rechte an ihrem dritten Roman, „The Speed Queen“ gekauft. Worum geht's?

Das ist eine Satire – und wie die meisten Satiren vollgestopft mit politischen Anspielungen. Es geht um eine Serienkillerin. Sie soll für eine Reihe von blutigen Morden hingerichtet werden, die sie am Rand der Route 66 begangen hat. In meinem Buch kauft Stephen King die Rechte an der Biographie der Mörderin. Er schickt ihr einen Fragebogen, den sie in den letzten Stunden vor ihrer Hinrichtung beantworten soll. Ein sehr brutales, aber auch lustiges Buch über die amerikanische Medienbesessenheit und über die Obsession, die von Serienkillern, Drogen und Gewalt ausgeht.

Deutsche Literaturkritiker verweisen gern auf die handwerklichen Fähigkeiten amerikanischer Schriftsteller. Dort könne man noch wirklich erzählen. Berechtigte Bewunderung?

Ich habe nicht genug deutsche Gegenwartsautoren gelesen, um irgend etwas über die Qualität dieser Literatur sagen zu können. Möglicherweise wird sie einfach unterschätzt. Deutschland scheint doch gerade jetzt ein furchtbar interessanter Ort zu sein: Die Menschen hier verändern sich, die ganze Kultur verändert sich. Das müßte doch genau das richtige Territorium für jeden Autor, besonders für jeden jungen Autor sein. Ich hoffe, die deutschen Leser und Kritiker übersehen nicht ihre eigenen Schriftsteller, wenn sie nach Amerika schauen. Das große Problem in der amerikanischen Literatur ist zur Zeit, daß es eine ganze Menge Autoren gibt, die handwerklich toll schreiben können – aber sie haben nichts zu sagen. Und es gehört eben beides dazu. Ein Text aus einem Guß und gut geschrieben ist nicht annähernd so wichtig wie ein Text, der tief und großmütig gegenüber seinen Charakteren ist. Man muß beides zusammenbekommen. Interview: Kolja Mensing

Stewart O'Nan: „Engel im Schnee“. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek 1997, 256 S., 39,80 DM