Auf natürlichem Stimmenfang

Mit dem Vermögen eines Fleischermeisters wird derzeit das Projekt „VideoAlarm 3000“ durchgeführt. Inszenierte Hilfeschreie im U-Bahntunnel  ■ Von Barbara Bollwahn

„Hiiiiiiilfe!“ schallt es durch die lange U-Bahnunterführung in Stadtmitte. Aus der Menge der Fahrgäste, die die fast 200 Schritte zwischen der U 2 und U 6 im Eiltempo zurücklegen, schreit jemand um sein Leben. Doch als hätten sie durch den grellen Hilfeschrei das Gehör verloren, nimmt niemand Notiz.

Das wundert Klaus Ebert und seine Leute wenig. Tagelang erlebten sie diese Tatenlosigkeit. Doch die Jungs von der texxor GmbH untersuchen nicht dieses Phänomen. Sie sind die Urheber der markerschütternden Schreie. Etwa ein Dutzendmal sprachen sie Passanten mit der Bitte an, so echt wie möglich in ein in der Wand installiertes Mikrofon um Hilfe zu schreien. Damit sich die Fahrgäste nicht verschaukelt fühlten, hatten sie ein aufklärendes Plakat dabei: „Liebe Berlinerinnen und Berliner, wir brauchen Ihre natürliche Stimme. Damit füttern wir einen Computer, natürlich anonym, welcher die Hilferufe von wirklich bedrohten Leuten dann besser erkennt und einen entsprechenden Alarm auslöst.“

Die texxor GmbH arbeitet seit anderthalb Jahren im Auftrag der Senatsverwaltung für Verkehr an einem weltweit einzigartigen Projekt. Bei dem Projekt „VideoAlarm 3000“ werden möglichst originalgetreue Hilferufe im Tunnel aufgenommen, um sie anschließend im Tonstudio aus den Nebengeräuschen herauszufiltern. Spielt die Technik mit, ermöglicht dieses Verfahren die digitale Übertragung von echten Hilferufen aus dunklen Tunneln hoch zum Bahnsteig, wo diese Monitore aktivieren. Ebert ist überzeugt, daß dies möglich ist, obwohl ihm „auch nahmhafte Profs“ abgeraten hätten. Doch der 43jährige Regisseur und Musiker ist nach den ersten Tests überzeugt, daß es möglich ist, echte Hilferufe von falschen zu unterscheiden und auszuschließen, daß sich die Monitore auch bei anderen Geräuschen aktivieren. Ebert hofft, Anfang September erste Ergebnisse präsentieren zu können.

Mit seinem Team aus Technikern, Ingenieuren und Physikern hat Ebert über 2.000 Hilferufe in deutsch, englisch und türkisch aufgezeichnet. Doch viele Schreie mußten im Studio aufgenommen werden, weil nicht wenige Fahrgäste „so gehemmt waren, daß sie nicht der Realsituation entsprachen“, so Ebert. Bei türkischen Frauen sei die Hemmschwelle besonders groß gewesen.

Neben viel Überzeugungskraft der Macher und Mut der Rufer erfordert das Projekt auch Geld, viel Geld. 1,3 Millionen Mark. Daß die Summe trotz leerer Kassen bereitgestellt wurde, ist einem Berliner zu verdanken. Einem toten Berliner. Als der alleinstehende Fleischermeister Werner Armborst 1992 im Alter von 85 Jahren starb, verfügte er, daß sein Vermögen von über fünf Millionen Mark zur Erhöhung der Sicherheit im Öffentlichen Personennahverkehr verwendet werden soll. Zufällig präsentierte Klaus Ebert der Senatsverwaltung für Verkehr seine Idee vor etwa drei Jahren, als die letzte Testamentshürde genommen und das Geld freigegeben war. Für etwa vier Millionen Mark wurden bereits Notrufsäulen entlang der U 6 installiert. Der „VideoAlarm 3000“ wird hoffentlich nicht als „einsamer Rufer in der Wüste“ auf das übernächste Jahrtausend warten müssen.