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Die Katastrophenhilfe wartet am Zoll

Wahlkampf, Prager Frühling oder Angst vor Plünderern: Zeiten des Hochwassers sind auch Hochzeiten nationaler Stereotype. Doch die Katastrophe an der Oder gibt vor allem den Wandel innereuropäischer Beziehungen wieder  ■ Von Christian Semler

Zbigniew Faliński wird langsam ungeduldig. Der Wojewode von Gorzów (Landsberg), Mitglied der polnischen Wende-Sozialdemokratie und in seiner Funktion einem französischen Präfekten vergleichbar, ist zu Besuch in Frankfurt (Oder). Eingeladen hat ihn Brandenburgs Umweltminister Matthias Platzeck. Jetzt gilt es für Falinski, mit lästigen Fragen der Journalisten angesichts der Hochwasser-Katastrophe fertig zu werden. Blockade örtlicher deutscher Hilfsangebote durch die Warschauer Regierung? Keine Spur. Mangelnder Informationsfluß zwischen der polnischen und deutschen Seite? Wenn überhaupt, dann Folge der stündlich wechselnden Hochwasserlage. Und außerdem: Präsident Kwaśniewski hat in Bonn alles nötige mit Bundeskanzler Kohl besprochen.

So hundertprozentig scheint es mit der Kooperation der Leidensgenossen diesseits und jenseits der Oder doch nicht geklappt zu haben. Sonst würde Matthias Platzeck, der vielbewunderte heimliche Deichgraf an der Oder, nicht erst jetzt verkünden, man würde von nun an ständig Informationen zur Deichsicherheit, Prognosen über die Wasserhöhe und Daten zur chemischen und bakteriellen Verseuchung des Wassers austauschen. Künftig soll auch je ein Vertreter des Krisenstabs an den Beratungen der „anderen Seite“ teilnehmen – und das alles zwei Wochen nach Beginn des Unheils.

Zeiten des Hochwassers sind immer auch Zeiten nationaler Hochstimmung. Das Unglück schweißt zusammen, Solidarität bringt ein verschüttet geglaubtes Wir-Gefühl hervor. Dieses kostbare Gut wird auch in den Ländern Ostmitteleuropas nur ungern mit Helfern jenseits der Grenze geteilt, vor allem wenn es um Helfer geht wie die Deutschen.

Denn Zeiten des Hochwassers sind auch Hochzeiten nationaler Stereotype. Allen Ernstes fürchten viele evakuierte Einwohner der Zilkendorfer Niederung, die jetzt von der Oder überschwemmt wurde, ihr zurückgelassenes Hab und Gut werde zur Beute polnischer Plünderer. Als ob diese Region gegenwärtig nicht die bestbewachte Deutschlands wäre, mit der größten Polizei- und Militärdichte pro Quadratzentimeter.

Umgekehrt kursierte in Slubice, der polnischen Schwesterstadt Frankfurts am anderen, flachen Oderufer, hartnäckig das Gerücht, die Stadt sollte den Fluten geöffnet werden, um Frankfurt „zu retten“. Im Gegenzug würden die Deutschen anschließend den Wiederaufbau der Stadt übernehmen. Sicher, die Angst vor Plünderern und die Sorge, zum Wohl des größeren Ganzen geopfert zu werden, grassierte auch innerhalb beider Länder. Aber ihre unwiderstehliche Kraft als Gerücht erhielten beide Befürchtungen erst, als sie mit den jeweiligen nationalen Stereotypen verschmolzen.

Immerhin ist das deutsche Technische Hilfswerk jetzt in Slubice tätig, um Trinkwasser aufzubereiten und Schnellpumpen einzusetzen. Den „heroischen“ Part allerdings haben Freiwillige der litauischen Feuerwehr übernommen. Deren Taucher dichten mittels Planen den Deich von der Wasserseite her ab. So eine Aufgabe wird nur von Einwohnern der alten polnisch-litauischen Adelsrepublik angepackt.

Sowohl die polnische wie die tschechische Regierung hatten die Gewalt der Wassermassen unterschätzt. Um so schwerer lösten sie sich aus den Fesseln der Ideologie des „Vertrauens auf die eigene Kraft“. Allerdings entwickelten sich die innenpolitischen Konstellationen in den Zeiten der Flut in beiden Ländern völlig unterschiedlich. In der tschechischen Republik setzte tatsächlich eine beeindruckende nationale Solidarisierung ein. Dr. Kafka vom tschechischen Außenministerium vergleicht die Stimmung mit der des Jahres 1968, kurz vor und nach dem russischen Einmarsch.

Diametral entgegengesetzt führte die Flut in Polen zur schroffen Polarisierung zwischen der wendesozialdemokratisch geleiteten Warschauer Zentrale und der Bevölkerung der überschwemmten Gebiete. Tatsächlich ist die in Polen notwendige Dezentralisierung der Kompetenzen wie der Finanzen seit dem Wahlsieg der Linken 1994 steckengeblieben, was während der Katastrophe zu gravierenden „Reibungsverlusten“ führte. Aber jetzt wird jede Unterlassung, jeder Fehlentscheid der Zentrale zugerechnet.

Lothar Herbst, Intendant des Breslauer (Wroclawer) Rundfunks, stellt die spontane Solidarität der Einwohner seiner Stadt in den ersten Tagen gegen die Stimmung, die nach dem Eingreifen der zentralen Behörden herrschte. Er sprach von der Wiedergeburt des Geistes der Solidarność und wie diese Emotionen rasch wieder zerfielen. Bei jedem Konflikt steht jetzt das Lager der „Postkommune“ gegen das „Postsolidarność-Lager“ – und Ende September sind Sejm-Wahlen angesagt. Die Flut wird zum Schlachtfeld. Das Ergebnis ist paradox: Ausgerechnet die polnische Nation, wegen ihres patriotischen Durchhaltevermögens teils bewundert, teils bespöttelt, zeigt sich im Augenblick der Bewährungsprobe gespalten.

Regierungsamtlich wird auf der deutschen Seite die Katastrophenhilfe durch einen Stab beim Auswärtigen Amt geleitet, der im Bedarfsfall die Hilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbände zusammenruft, um durch sie Unterstützungsgelder an Bedürftige zu kanalisieren. Was Polen anlangt, so existiert seit April ein Abkommen für gegenseitige Katastrophenhilfe, das noch nicht ratifiziert ist, aber auf polnischen Vorschlag hin sinngemäß angewandt wird. Auf dieser Grundlage etwa arbeiten gegenwärtig zwei Gruppen des Technischen Hilfswerks in Breslau (Wroclaw), um beim Pumpen und bei der Trinkwasserversorgung zu helfen – nachdem sie bei der Einreise stundenlang beim polnischen Zoll warten mußten. Die Arbeit des Hilfswerks stößt auf große Anerkennung, im ganzen aber ist die deutsche Katastrophenhilfe weit unter ihren Möglichkeiten geblieben. Sicherlich würden sich viele Opfer der Flut lieber auf die Zunge beißen, als die Deutschen um Hilfe zu bitten. Aber in einer Reihe von Fällen scheinen aufgrund der Intervention der Warschauer Zentrale konkrete Hilfsangebote abgewiesen worden zu sein.

Bei den Tschechen liegt der Fall noch schwieriger. Die tschechische Regierung vermied es lange Zeit, überhaupt um Hilfe nachzusuchen. Als nach langwierigen Kabinettsverhandlungen in Prag ein entsprechender Beschluß gefaßt wurde, unterblieb dessen Protokollierung. Die Note, die schließlich das Auswärtige Amt erreichte, hinterließ den Stab für humanitäre Hilfe ratlos: Sie enthielt keine konkreten Anforderungen. Daran wird jetzt gearbeitet. Unabhängig von ihrer Regierung hat die tschechische Botschaft in Bonn sofort nach Beginn der Katastrophe auf Hilfsangebote aus Deutschland reagiert, hat eine Koordinierungsstelle eingerichtet und räumt Zoll- und andere Hindernisse aus.

Gemessen an den Problemen auf der staatlichen „Königsebene“, hat die Flut auf der Ebene der Gesellschaften fast durchweg Erfreuliches hochgespült. Wie zu erwarten funktionierte die Zusammenarbeit da am besten, wo schon vor der Katastrophe eingespielte Beziehungen bestanden hatten, sei es durch Städtepartnerschaften, wie der zwischen Wiesbaden und Breslau, sei es innerhalb internationaler Hilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbände. Die Leute der Caritas beispielsweise griffen einfach zum Telefon, um von den tschechischen Kollegen zu erfahren, was am dringlichsten im überschwemmten Mähren nottat. Es waren Desinfektionsmittel. Die Caritas belud keine Lastwagen, zog keine medienwirksame Hilfsgüter-Show ab, sondern überwies den angeforderten Betrag. Sie konnte sich darauf verlassen, daß die tschechischen Kollegen ihn schnell und vernünftig „absorbieren“ würden. Und der tschechische Malteserverband hat in Karel Fürst Schwarzenberg einen Koordinator, der zu weit mehr in der Lage ist, als bei den europäischen Standesgenossen anzuklopfen.

Das Glück des einen ist das Unglück des anderen. Bricht südlich der Damm, sinkt nördlich der Pegelstand. Es waren die Deutschen, die zuerst von dieser Oder- bzw. Elbe-Regel profitierten (jetzt sind es die Einwohner im polnischen Szczecin). Das geographische Süd- Nord-Gefälle findet seine Entsprechung in der Völkerpsychologie. Denn die Überschwemmungen, die in Mähren und Schlesien binnen kürzester Frist ganze Bezirke unterm Wasser verschwinden ließen, wurden der Untätigkeit bzw. Unfähigkeit „der Polen“ bzw. „der Tschechen“ angelastet. Äußerstenfalls wurde konzediert, daß der Realsozialismus schuld war. Der hatte schließlich den Baumbestand in den Sudeten und im Riesengebirge zerstört und damit die Aufnahmefähigkeit des Bodens auf Null gebracht.

Im Gegensatz zu Polen und Tschechen verfügten die Deutschen über die zentrale Ressource Zeit. Deswegen konnte anstelle des „Alles rennet, rettet, flüchtet“ eine neue Dramaturgie treten: die der heroischen Dammverteidigung mit ungewissem Ausgang. Der Stern Matthias Platzecks stieg auf. Und jetzt beherrscht die organisierteste aller Ordnungsmächte, die Bundeswehr, die Szene. Sie kämpft unter dem Motto ihres Ministers: „Die Flut geht wieder, wir bleiben!“. Und die Sprache der Berichterstatter gleicht sich der massiven Militärpräsenz an.

In Polen hingegen konnte das Militär nicht medienwirksam als Verteidigungsmacht gegenüber den Fluten in Erscheinung treten. Mal waren zu viele Soldaten da, mal überhaupt keine. Der Versuch der Militärs, einen Damm unweit von Breslau zu sprengen, um die Stadt zu retten, wurde von den Einwohnern verhindert. Damit gerieten die Soldaten selbst ins Feld der politischen Polarisierung. Selbst im national solidarisierten Tschechien büßte das Militär an heroischem Glanz ein: Die Panzer einer tschechischen Einheit gingen unter, weil der Kommandeur ausnahmslos alle Grenadiere an der „Wasserfront“ eingesetzt hatte.

Wenn die Überschwemmung zurückgeht, was in Schlesien und Mähren bereits der Fall ist, werden Verzweiflung und Apathie zurückbleiben. Im Gegensatz zu den deutschen Katastrophenopfern sind ihre ostmitteleuropäischen Leidensgenossen oft nicht versichert, der staatlichen Hilfe bleiben enge Grenzen gesetzt. Wenn es um den Wiederaufbau der Häuser, um die Reparierung von Straßen geht, treten anstelle spontaner Hilfsbereitschaft die Kalküle der Finanzmanager. Eine gemeinsame, großzügige Hilfe der Europäischen Union könnte dazu beitragen, daß den gegenwärtig noch starken, sich um das Phantasieprodukt „Zurück nach Europa“ scharenden positiven Stereotypen eine materielle Grundlage verschafft wird.

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