: Wir kommen wieder, um uns zu beschweren
■ Mit ihrer neuen Platte fragen Tocotronic wütend nach der Bedeutung von Informationen
Sie haben uns die Augen geöffnet. Erst haben wir müde gelächelt, und dann wurde uns klar: Auch wir wollen Teil einer Jugendbewegung sein, auch wir wollen uns mit Begeisterung einer Sache hingeben, und scheint sie noch so unwichtig. Natürlich hatten Tocotronic damals nicht die passende Lösung in der Tasche, doch reichte die Spontaneität und Glaubwürdigkeit, mit der sie diesen Wunsch formulierten, um zum Sprachrohr einer suchenden Jugend gewählt zu werden und gleichzeitig die heimliche Passion zynisch gewordener 30jähriger sein zu können.
Denn Tocotronic thematisieren Alltag, sprechen von Banalem auf einfache, aber nicht banale Weise. Und wo bei anderen Bands des engeren Hamburger Zirkels der Diskurs gerne auch mal zum Gefängnis wird, können sich Tocotronic auf die Gefühlswelt im eigenen Kosmos verlassen. Dazu gehört bekanntlich auch Wut, auf Menschen, Berufsgruppen, Verhältnisse und sich selbst. Wobei in diesem Protest, knackig formuliert in dem Titel ihrer dritten LP Wir kommen, um uns zu beschweren, auch immer etwas Stilles, Selbstreflexives mitschwingt. Das ist es, was diese Band so besonders macht – diese eigentlich widersprüchliche Verbindung aus mehrfach gewendetem Wissen und spontanem, gefühlvollem Ausdruck. Denn auch wenn sie „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört“sangen, bedeutet das noch lange nicht, daß an die Stelle der so exorzierten falschen Gefühligkeit keine eigene Gefühlswelt getreten wäre.
Tocotronic haben keine Probleme damit, auf denkbar anrührendste Art den „schönsten Tag in meinem Leben“zu besingen. Dieses sentimentale Stück Alltag, zu finden auf Tocotronics neuer, vierter Platte Es ist egal, aber, ist dort keineswegs ein Ausrutscher im immer noch dominanten Gitarrengedonner. Es verbündet sich mit mindestens vier anderen von Streichern geprägten Liedern zu einem jetzt auch musikalisch hörbaren Prozeß der ruhigeren Gedankengänge.
Dabei gelingt es Dirk, Arne und Jan, ihr System aus kleinen Wegen und Nichtvereinnahmung aufrecht zu erhalten. Auch wenn sie dafür eine Minute lang „Alles, was ich will, ist, nichts mit euch zu tun zu haben“schreien müssen. Entgegen der Verschwommenheit ihrer Fotos auf den Plattencovern sind Toco-tronic im besten Sinne konkret und politisch, indem sie eben weniger darüber sprechen, sondern handeln und Festivals, auf denen faschistoid gefärbte Bands mitspielen, absagen. Eine gesunde Kombination. Was wahrscheinlich daran liegt, daß sie, wie Dirk von Lowtzow betont, immer wieder die im Informations- und Dekonstruktionswirrwarr wichtigste aller Fragen stellen: „Was hat das eigentlich mit meinem Leben zu tun?“Und davon kann sich jede Schule noch eine Scheibe abschneiden.
Holger in't Veld
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