Die Eskimos vom Millerntor

■ Fan-Gesänge dienen dem Gemeinschaftsgefühl, aber auch der Abgrenzung. Sagt der Hamburger Musik-Professor Helmut Rösing

Für die Wissenschaft sind die Gesänge der Fußball-Fans noch ein relativ unerforschtes Gebiet. Soviel ist jedoch sicher: „Es handelt sich um ein festes Ritual“, sagt Professor Helmut Rösing von der Universität Hamburg (Foto: Markus Scholz). Der taz erklärte der 53jährige Musikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Musikpsychologie, weshalb die Fans des FC St. Pauli „You'll Never Walk Alone“singen und was die braun-weißen Anhänger mit den Eskimos verbindet.

taz: Wie ist das Phänomen der Fangesänge wissenschaftlich zu erklären?

Helmut Rösing: Das Grundmuster ist immer das gleiche. Es greifen bestimmte Identifikationsmechanismen, in dem Sinne:„Wir sind eine Gruppe.“

Wer identifiziert sich da mit wem oder was?

Das geht in zwei Richtungen. Zum einen wird den Spielern der eigenen Mannschaft durch das Absingen der Vereinshymne von den Fans signalisiert: „Wir sind bei euch, stützen euch und leiden mit euch.“Die Spieler werden so quasi musikalisch aufgebaut, vielleicht wird sogar deren Angriffslust gestärkt.

Was ist die zweite Wirkung, von der Sie gesprochen haben?

Die Fans versichern sich gegenseitig mit dem Akt der Solidarisierung, daß sie zusammengehören. Durch das Singen bekennen sie sich lautstark und öffentlich zu einer Gruppe. Dies geschieht oftmals auch in Abgrenzung zu den gegnerischen Fans. Das Singen im Stadion ist eine Art Wettkampf. Etwas Ähnliches gibt es zum Beispiel bei den Inuit (den Eskimos; die Red.). Dort werden Streitigkeiten, die bei uns vielleicht handgreiflich gelöst würden, durch Wettgesänge entschieden.

Die Fans des FC St. Pauli würden sich bei den Eskimos wohlfühlen. Sie sind berühmt für Ihre Hymne „You'll Never Walk Alone“. Haben Sie eine Idee, wieso gerade dieser Song am Millerntor gesungen wird?

Vom Text her paßt das Lied einfach phantastisch zum Fußball. Die Idee der Gemeinsamkeit und das Gefühl des Durchleidens werden besungen, aber auch die Siegeszuversicht. Im Prinzip ist es aber häufig reiner Zufall, wie ein Stück zu einer Stadionhymne wird. Einer fängt irgendwann damit an, der Rest findet es gut, und mit der Zeit verfestigt sich das zu einem konstanten Verhalten. Die Gruppe hat sich sozusagen auf ein bestimmtes Muster geeinigt.

Und warum entscheiden sich die Fans so häufig für getragene Lieder?

Das hat in erster Linie pragmatische Gründe. Aus Kirchengemeinden kennt man das ja: Kaum wird das Tempo etwas schneller, bricht das Chaos aus. Bei langsamen Stücken können aber alle gut mitsingen und sich entsprechend einbringen.

Fragen: Clemens Gerlach Weiterführende Literatur: Bruhn/Oerter/Rösing (Hrsg.): „Musikpsychologie – ein Handbuch“, Rowohlt Enzyklopädie (Reinbek 1997, 3. Auflage); darin insbesondere der Beitrag über „Konzertbezogene Verhaltensrituale“.