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O Heimatland, wozu?

Die Lust war nicht immer auf seiner Seite. Aus dem Leben eines professionellen Genußradlers  ■ Von Henning Sietz

Genußradeln ist mein Beruf. Ich baldowere Radtouren aus, fahre sie mit dem Diktiergerät in der Hand ab, mache unterwegs Fotos, besuche Museen, wähle Hotels und Restaurants aus, um genußfähige Touren zusammenzustellen. Irgendwann erscheint so was als Buch, als Radwanderführer. Oder, besser gesagt, als „Genuß-Radwanderführer“.

Eines vorweg: Der Genuß war nicht immer auf meiner Seite. So ein „Führer“ erfordert etwa sechs bis acht Wochen Arbeit. Man radelt 1.000 bis 1.500 Kilometer – ob's stürmt oder schneit. Der Abgabetermin steht felsenfest. Man ist auf Gedeih und Verderb zum Radeln verdammt. Und kriegt beängstigende Schwielen am Hintern, die Beinmuskeln werden ausgesprochen kompakt, der Oberkörper dagegen hat wenig zu tun. Die typische Radfahrerfigur eben.

Ein halbes Dutzend Radlerbücher kamen im Laufe der Jahre zusammen. Es begann mit einer Tour längs der Ostseeküste von Travemünde bis Usedom. Die Erfindung des Genußradelns war damals noch in weiter Ferne. Diese Tour hatte alles, was sich ein Fahrradtourist wünschen kann: unbekannte Landschaften wie den Klützer Winkel, Begegnungen mit riesigen Schwärmen von Graugänsen, stille Vollmondnacht in ehemaligen Funkwagen der NVA (in Wieck auf dem Darß war kein Zimmer frei), den zauberhaften Darßer Wald, die Kraniche vor Barhöft, die Kormorane bei Brandshagen, die wundersame Insel Usedom, wie geschaffen fürs Radfahren. Man schrieb damals das Jahr 1993, die Zeitungen waren voll mit Enthüllungen, wer bei der Stasi war und wer IM. Doch an der mecklenburgischen und vorpommerschen Küste drehte sich alles nur um eine Frage: Wer im Dorf darf bauen – und wer nicht. Je weiter man nach Osten kam, desto übler wurde die Stimmung im Lande.

An seltenen Tagen stellte sich sogar ein Urlaubsgefühl ein. Das ist unbezahlbar – und wird in der Tat auch nicht bezahlt. Man startet morgens von seinem Quartier, die Sonne lacht, man macht einige Fotos der Kliffküste, besucht ein Heimatmuseum, wählt am Nachmittag ein Restaurant aus. Auf Hiddensee bat ich nach Speis und Trank um die Rechnung: „Und bitte mit Mehrwertsteuer.“ Am Nachbartisch kam deutlich ungute Stimmung auf: ein Wessi, ein Urlaubsschwindler und Steuerbetrüger!

Stürze müssen nicht sein, kommen aber vor. Da fährt man gerade mal einhändig, weil man ins Diktiergerät spricht, muß bremsen – und liegt flach. Die Flüche und das Sturzgerumpel kann man sich abends auf Band anhören. Kein Vergnügen, wenn das abends auf einsamer Strecke passiert. Schlimmer noch, man verschätzt sich in der Zeit, fährt durch einen Wald, die Nacht bricht an. Da gibt's nun mal keine Laternen, man sieht die Wegweiser im Dunkeln nicht, sie hängen zu hoch, und die Ortskundigen sitzen längst daheim und sehen die Spätnachrichten. Genußradeln? Ach, für wen denn.

Und dann die Tierwelt. Ein großer Schwarm Graugänse, die auf einem Feld palavern, ist etwas Wunderbares. Wer steigt da nicht ab vom Rad und staunt. Oder die Kraniche vor Stralsund. Da macht man für eine Stunde seinen Frieden mit der Welt. Aber warum gibt es in Mecklenburg bei fast jedem Anwesen einen Schäferhund, vor allem bei Leuten, die Privatquartiere vermieten? Am Schaalsee – ich war ja gewarnt worden – hetzte bei einem einsamen Haus ein Schäferhund hinter mir her. Irgendwann hatte er keine Lust mehr und drehte ab. In der Friesischen Wehde, schmal war der Weg, stand plötzlich ein junger Bulle vor mir. Er war gerade von der Wiese ausgebrochen. Herausfordernd warf er den Kopf zurück, tänzelte etwas und fixierte mich. O Heimatland, was tun? In kleinem Gang rollte ich langsam an diesem Halbstarken vorbei. Wir schrieben das Jahr 1995, und das Genußradeln war bereits erfunden.

Die härteste Erfahrung wartete längs der Elbe. Ich fuhr Ende November los – nach tagelangen Überlegungen, auf welcher Flußseite man am besten radelt. Bezaubernd die Landschaft, auch im Novembernebel. Die Kälte? Alles nur eine Frage der Ausrüstung und der Einstellung. In Gorleben witzelten die Leute: „Ach, der Frühling kommt!“ Nur mit einem hatte ich nicht gerechnet: Die Ausflugsgaststätten zwischen Lauenburg und Havelberg machen im November Betriebsferien. Es gab nichts zu essen! In Langenfeld bei Gorleben hatte eine Kneipe geöffnet, doch der Wirt wollte nichts zubereiten. Mit Mühe rückte er eine Tasse Tee heraus – zu den eigenen eiskalten Stullen. Klarer Fall, daß so eine Kneipe nicht ins Buch kommt.

Ohne es eigentlich zu wollen, wird man zum Experten für Heimatkunde. Was eiszeitliche Oser sind und Sölle, Drumlins und Tunneltäler, unterschlägige Mühlräder und Königswellen, irgendwann weiß der Genußradler das. Warum die Bauern im Mittelalter ihre Höfe stets in mittlerer Hanglage bauten – man sieht fortan die Landschaft mit anderen Augen. Doch wem nützt es? Es ist totes Wissen, in den meisten Reisebüchern ist das nicht gefragt.

Schließlich stellt sich auch ein Blick für verschiedene Mentalitäten ein. Warum ist zum Beispiel Holland das ideale Radfahrerland schlechthin? Mit einem flächendeckenden Radwegenetz, mit Einbahntunneln für Radfahrer, mit eigener Beschilderung für Radler im Kreisverkehr. Das liegt nicht nur an der Übersichtlichkeit des Landes, die Lebenseinstellung ist der Grund: Man hetzt nicht so wie in Deutschland, die Höchstgeschwindigkeit auf den Autobahnen von 120 Stundenkilometern wird selten überschritten. In Deutschland dagegen ist im Tempo nach oben alles offen. Fragt man hier Anwohner nach dem bestmöglichen Radweg, erklären sie die kürzeste Route auf stark befahrenen Bundesstraßen, womöglich ohne Radweg.

Das Wort „Genußradeln“ wurde in der Presse hochgejubelt. Es adelte das ohnehin im Trend liegende Radfahren. Vor meinen Augen taten sich schon weitere Marktsegmente auf: Genuß-Radwanderführer für selbstbewußte Frauen, für alleinerziehende Väter oder vegetarische Singles. Doch so weit wird es nicht kommen. Im neuen Prospekt des Verlags, der kommentarlos zugesandt wurde, sind die Genußbücher im Preis stark herabgesetzt. Sie verkaufen sich nicht so wie erwartet.

Um eines klarzustellen: Ich fahre für mein Leben gern gemächlich durch die Landschaft. Einen Radwanderführer habe ich allerdings noch nie mitgenommen. Es gibt doch Landkarten. Und meine Augen kann ich selber offenhalten.

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