: Null Toleranz gegen das Böse
Pauline Davis von den Bahamas hat bei allen sechs Leichtathletik-Weltmeisterschaften mitgemacht. Doch nun ist sie müde – und mächtig sauer ■ Aus Athen Peter Unfried
Die Frau sieht wirklich ein bißchen geschafft aus. „Ich bin müde“, sagt sie. Nein, das hat nicht nur mit der Stadionrunde von eben zu tun. Auch nicht damit, daß sie um fünf aufstehen mußte, weil ihr Lauf in aller Herrgottsfrühe angesetzt war. Es ist eine grundsätzliche Erschöpfung. „Wenn du so lange und so hart arbeitest wie ich“, sagt sie, „wirst du müde.“
Pauline Davis (31) ist seit der ersten WM in Helsinki 1983 bei allen Welttitelkämpfen dabeigewesen. Es gibt nicht viele von ihrer Sorte. Neun sind es, um genau zu sein. Sergej Bubka ist einer: Fünfmal dabei, fünfmal gewonnen – das ist Rekord. Oder Merlene Ottey: Fünfmal dabei – dreizehn Medaillen – auch Rekord. Oder Jackie Joyner-Kersee, viermal Gold. Die deutsche Weitspringerin Heike Drechsler holte WM-Gold für zwei Staaten. Anachronismen allesamt.
Davis ist vermutlich auch einer – nur hat sie nie gewonnen. Vor zwei Jahren in Göteborg wurde sie Zweite über 400 m – hinter Marie José Perec. „Es war kein Gold“, sagt sie, „aber tief in meinem Herzen verspürte ich ein Gefühl des Stolzes.“ Davis sagt andauernd solche Sachen. Von anderen würde man die nie-nie-niemals zitieren. Sie aber darf sagen: „Ich liebe die Leichtathletik“, ansonsten „hätte ich gar nicht solange durchhalten können“. Und man bildet sich ein, zu sehen, daß es wahr ist.
Seit einigen Tagen allerdings schmerzt ihre Liebe. Um genau zu sein, seit Primo Nebiolos IAAF die Minimumsperre für des Dopings überführte Leichtathleten von vier auf zwei Jahre herabgesetzt hat. Der Weltverband konnte kaum anders, nachdem in einigen Ländern, darunter der Bundesrepublik, zivile Gerichte die Sportgesetze aushebelt hatten. Die Gesetzesmodifikation ist eine pragmatische Reaktion auf die veränderten Geschäftsgrundlagen im Zeitalter der 100.000-Dollar-Weltrekordprämien.
Einige allerdings argumentieren von einem moralischen Standpunkt. Englische und kanadische Funktionäre zum Beispiel oder der Doppel-Olympiasieger Michael Johnson. Davis auch: „Zwei Jahre sind nichts“, sagt sie. „Sie belohnen die Betrüger.“ Davis kommt von den Bahamas und fühlt Verantwortung gegenüber ihrem Karibikstaat und seinen Heranwachsenden. Sie sieht sich als role model. „Wir geben unseren Kindern die falsche Botschaft“, sagt sie. „Wenn es okay ist, in der Leichtathletik zu betrügen, ist es okay, den Rest des Lebens zu betrügen.“ Britisch erzogen ist sie. Gläubige Baptistin. Dazu kommt US-amerikanisches Gefühl für Recht und Ordnung. Das bedeutet: „Null Toleranz: Wenn du etwas Böses tust, mußt du bestraft werden.“
Jetzt aber mal langsam, role model! Wird doch allenthalben betrogen. Steuer, Abitur, Gefühle sowieso. Braucht man ihr nicht mit zu kommen. „Man darf den Betrug nicht akzeptieren“, sagt sie. Es geht nämlich anders. Davis muß es wissen. Sie lebt und arbeitet (für das Bahamas Tourist Board) seit einigen Jahren in Atlanta, Georgia. Dort trainiert sie bei Manley Waller mit dessen Frau. Während diese Trainingskollegin namens Gwen Torrence von Gold zu Gold sprintete, kam Davis über 100 m und 200 m über olympische Semifinale nicht hinaus, verzagte aber nie. „Ich habe es fünfmal versucht“, sagt sie, „und dann habe ich es geschafft und war voll der Freude.“ Woraus folgt: „Man kann es schaffen. Es dauert nur manchmal ein bißchen länger.“
Der Wechsel auf die international nicht ganz so umkämpften 400 m machte aus ihr in Göteborg eine Weltklasse-Läuferin. Das bestätigte sich im olympischen Finale von Atlanta, als sie mit 49,28 Sekunden persönliche Bestzeit und karibischen Rekord lief. Platz vier hieß das. Verdammt? Im Gegenteil. Sie war mächtig stolz, denn „ich habe mein Bestes gegeben und mein Bestes erreicht“.
Ihr Bestes gegeben hat sie nun auch in Athen. Im Zwischenlauf hat sie ihre Jahresbeszeit um eine Sekunde auf 50,53 sec gedrückt. Der heutige Endlauf kommt aber etwas früh. Ein gezerrter Muskel hatte sie zwei Monate so geplagt, daß sie nicht einmal „den Hund ausführen“ konnte. Danach hat sie viel trainiert, viel Fruchtsäfte getrunken.
Davis ist 1,68 groß und im Vergleich etwa zu Konkurrentin Grit Breuer nachgerade zierlich. Wenn sie in heiligen Ernst gerät, wird sie raumfüllend. „Ich preise den Herrgott nicht dafür, daß er mich eine Medaille gewinnen läßt“, sagt sie, „ich preise ihn dafür, daß ich wieder gesund bin.“ Nicht einmal die Bahamas Amateur Athletic Federation stellt dumme Fragen. „Sie könnten von mir eine Medaille verlangen“, sagt Davis. Haben sie aber nicht getan. In Nassau wissen sie auch, was sie an ihr haben. „Die wissen aber auch“, sagt Pauline Davis, „daß ich nach all den Jahren etwas müde bin.“
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