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Die Sandsackordnung ist undurchschaubar

■ Während am westlichen Ufer der Oder die Bundeswehr ihr Aktionsprogramm durchzieht, herrscht auf der polnischen Seite vollkommene Ruhe. Küstrins Altstadt steht unter Wasser

In Küstrin, polnisch Kostrzyn, wo Oder und Warthe zusammenfließen, herrscht seit zwei Wochen Ausnahmezustand. Das Wasser scheint endlos zu sein, ein riesiger See liegt vor der Haustür. Früher mäanderte die Warthe mit ihren tausend Nebenflüßchen und Kanälen gemächlich in die Oder, jetzt ist das weite Auengebiet überflutet und der Zusammenfluß kaum mehr zu orten. Höchstens an der Geschwindigkeit des Wassers.

Die Warthe fließt langsam, führt Entengrütze aus ganz Polen mit sich, ein hellgrüner, schmieriger Film ergießt sich in Küstrin in die Oder, wird auseinandergewirbelt und schwabbt als Glibber ans polnische Ufer. Mitgekommen sind auch die Frösche. Sie quaken jetzt in den Datschensiedlungen, auf den Parkplätzen und rund um die Papierfabrik, die erstaunlicherweise – weil direkt am Fluß – immer noch, wenn auch eingeschränkt, arbeitet. Das Notstandspersonal kommt in Gummistiefeln zur Schicht.

Die Menschen, die links und rechts der tiefliegenden alten Reichsstraße Nr. 1 wohnen, haben nicht nur Wasser im Keller, sondern auch die Grütze. Wird sie bewegt, steigen Mückenschwärme auf. Seit zwei Wochen ist das polnische Küstrin Katastrophengebiet, eine neue Flutwelle kommt aus Landsberg über die Warthe. Ein Drittel der 15.000 Einwohner Küstrins sind schon ins Hinterland geflüchtet. Am Freitag nachmittag stieg der Pegel erneut um einige Zentimeter auf 6,41 Meter, das sind 40 Zentimeter mehr, als in Slubice, gegenüber von Frankfurt (Oder), gemessen wurde. Am Samstag war der Bahnhof nicht mehr trockenen Fußes zu durchqueren. Noch ist der deutsch-polnische Zugverkehr nicht unterbrochen. Wer hier aussteigt, hüpft von Sandsack zu Sandsack. Die Kinder finden das lustig.

Die Erwachsenen nehmen es gelassen, obwohl die Gefahr eines Deichbruchs stromaufwärts bei Landsberg wächst. Es gibt keine Polizei, die in Küstrin mit Tatütata Evakuierungsanordnungen durchgibt, keine Soldaten, die Sandsackschlangen bilden, keine Feuerwehr, die Keller auspumpt. Auch die Sandsackordnung ist undurchschaubar. In einigen Plattenbauten, nahe am überbreiten Fluß, liegen die Säcke hübsch aufgereiht auf den Balkons im ersten Stock, einige Geschäfte sind mit Plastikplanen verpackt. Aber dann sieht man auch offene Cafés und Läden. Und vor ungeschützten Einfamilienhäusern Menschen, die mit ihren Nachbarn plaudern.

Fast ganz unter Wasser steht die 30 Hektar weite Altstadt direkt an der Oder, dieses gespenstische Gebiet, in dem seit 1945 nur noch Ruinen an die alte brandenburgisch- preußische Festungs- und Garnisonstadt erinnern. Sperrgebiet ist auch der Grenzübergang an der Oderbrücke. Die Zollhäuschen werden von der Polizei bewacht, Tankstellen sind von Sandsackbarrieren umgeben. Vollkommene Ruhe auch dort, wo sich sonst die Einkaufstouristen drängeln. Der Basar ist ausgeräumt, die Flut hat schon viele Händlerexistenzen vernichtet.

Von Küstrin nach Slubice führt die Autostraße Nr. 118. Etwa zehn Kilometer, bis kurz nach Göritz, liegt sie unter dem Oderwasserspiegel, an zwei Stellen läuft sie dicht unter dem Deich. Während auf der Westseite, in Reitwein, Bundeswehrsoldaten in einer wahnwitzigen Anstrengung einen neuen Entlastungsdeich einschließlich Abflußkanal bauen, liegen hier nur Sandsäcke bereit. Wenn hier der Deich brechen sollte, wird es aussehen wie in der Ziltendorfer Niederung. Am Horizont sind die Bundeswehrhubschrauber über Reitwein zu sehen, auf der polnischen Seite nur Schwalben. Alle Dörfer sind geräumt. Ein Aufpasser mit Handy steht da und pflückt Kirschen von den Bäumen. „Die Deutschen sind ungerecht“, meint er melancholisch. Sie redeten von polnischen Plünderern, die nachts über die Oder kommen könnten. „Finden Sie das nicht traurig?“ fragt er und bietet eine Zigarette an. Anita Kugler, Küstrin

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