: Die Vergeblichkeit des Aufbruchs
...und die Unmöglichkeit der Rückkehr. Silvio Huonder beschäftigt sich in „Adalina“ mit den Träumen einer Generation und erzählt eine langsame, wunderschöne Liebesgeschichte ■ Von Michael Wildenhain
Der 40jährigen Grafiker Johannes Maculin verläßt aufgrund eines plötzlichen, durch eine Nichtigkeit verursachten Entschlusses seinen langjährigen Wohnort Berlin. Er kehrt zurück in die Schweiz, nach Chur, Hauptstadt Graubündens, wo er geboren und aufgewachsen ist. Die Geschichte, die Silvio Huonder, 1954 in Chur geboren und seit einigen Jahren in Berlin lebend, erzählt, klingt zunächst nicht sehr aufregend.
Auch auf den zweiten Blick gewinnt sein Romandebüt „Adalina“ nur insofern, als es den Vorgang des Erinnerns thematisiert: Schon während der Eisenbahnfahrt, vor allem aber, als der Held in der Kleinstadt angekommen ist und, bewehrt mit neuen, aber noch unbequemen Schuhen, von einer Irritation ins nächste Mißgeschick stolpert, wird er wieder mit seiner Kindheit und frühen Jugend konfrontiert.
Diese Erinnerungen, knapp und lakonisch erzählt, ausgelöst durch zufällige Begegnungen oder ein abruptes Wiedererkennen von Örtlichkeiten und Gegenständen, konzentrieren sich zunehmend auf die nur wenig jüngere Cousine Johannes Maculins, Adalina, die er, wie langsam klar wird, geliebt hat. Neben den Schwierigkeiten, die das Heranwachsen sowieso bereithält und den zusätzlichen Hindernissen, die eine nicht nur konservative, sondern körperfeindliche Gesellschaft mit gewisser Genugtuung errichtet, stand dieser Liebe vor allem eine Komplikation im Weg: die nicht behobene Phimose Maculins, dessen Namen das relevante „s“ fehlt und der nicht zufällig so ähnlich wie „Makel“ klingt.
Das ist, auf den nächsten Blick, nicht so gewöhnlich, wie die Geschichte einer Pubertät vielleicht zuerst scheinen mag. Die Entwicklung und die langsame Annäherung des Helden und seiner Cousine Adalina Fons geschieht in einer schweizerischen Wirklichkeit, wo der noch rätoromanisch sprechende Großvater Wegemacher gewesen ist, wo die Berge nah sind, wo die Leute Veraguth heißen und die verachteten Ausländer Fiorelli aus Italien sind.
Die Familie des Onkels Fons treibt im Sommer anderer Leute Rinder auf die Alm und mästete früher eigene Schweine. Sie wurden abgeschafft, als Johannes Maculin kein Kind mehr war. Der Onkel arbeitet nun während der Nachtschicht in einer großen Chemiefabrik; und dieser Übergang von einer teilweise noch bäuerlich geprägten Welt zu einer Industriegesellschaft, die sich leise und im Hintergrund vollzieht, schwingt in den Erinnerungen Maculins fortwährend mit.
Interessanter als die klaustrophobe Enge der Bergwelt und die Beschränktheit ihrer Bewohner ist jedoch der Charakter der Schweiz als kleines, von Europa immer ein wenig abgeschlossenes Land. Darin ähnelt sie der nicht mehr vorhandenen DDR, und eigentümlicherweise hat mich das Buch in seiner zugrundeliegenden Stimmung an Thomas Braschs „Vor den Vätern sterben die Söhne“ erinnert.
Eine unmittelbare Verwandtschaft ergibt sich insofern, als der rätoromanisch sprechende Großvater am Ende noch lebt, der Enkel aber nicht mehr. Der eigentliche Grund für die eher atmosphärische Ähnlichkeit ist aber ein anderer. Thomas Brasch beschreibt in der genannten Erzählung eine Generation, für die die Energien eines revolutionären Aufbruchs, die Kraftströme des sozialistischen Aufbaus versiegt sind. Vom Gefühl der unabwendbaren, weil längst vollzogenen Niederlagen ist sie derart bestimmt und durchdrungen, daß ihr Schicksal nicht mehr politisch, allenfalls existentiell auszumessen ist. Die Ausweglosigkeit, für die die Berliner Mauer wie ein Symbol erschien, wird zwar noch als solche empfunden, ist aber längst umfassend und unüberschreitbar.
Bei Silvio Huonder handelt die nachfolgende Generation. Um deren Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit darzustellen (ein Begriff von einer anderen Gesellschaft existiert nicht mehr), bedarf es beider Erzählebenen, der gegenwärtigen wie der vergangenen. Denn der versuchte Ausbruch aus einer engen Welt scheitert an der Belanglosigkeit eines großstädtischen Alltags, und die Rückkehr in die Berge ist, wie sich am Ende herausstellen wird, ebenfalls nicht möglich.
Obwohl Teile dieser Generation auch in der Schweiz, vor allem in Zürich, Anfang der achtziger Jahre aufbegehrten, war dieser Aufbruch von vornherein vom Wissen um die Vergeblichkeit geprägt. Davon erzählt der Roman „Adalina“ auf eigene Art, indem er die wunderschöne, weil so langsame Liebesgeschichte Johannes Maculins und seiner Cousine scheitern läßt. Das Versprechen hat sich nicht einlösen können, genausowenig wie das Versprechen, das die DDR anfangs bereitzuhalten schien: die Hoffnung, eine Gesellschaft planvoll, also vernünftig gestalten zu können.
Und so muß Johannes Maculin dem kleinen Jungen, der er selbst ist – der aber dennoch hinter einer Tür hockt und sagt: „Da bist du ja endlich“ – auf die Frage: „Was hab' ich in meinem Leben gemacht?“ die folgene Antwort geben: „Ein paar Städte und Menschen kennengelernt und wieder vergessen, ein bißchen gezeichnet.“ – „Das ist alles?“ – „Manchmal auch Spaß gehabt.“ – „Sind Adalina und ich“, fragt der Junge, „glücklich gewesen?“ – „Eine Weile, ja.“ – „Aber dann?“ – „Ist sie verschwunden.“
Das Buch hat ein paar kleinere Schwächen. So beginnt es beispielsweise damit, daß der Held, nachdem er aufgewacht ist, Mühe hat, sich aus dem Bett zu erheben. Unzählige Bücher beginnen so, und immer ist es ein etwas fader Anfang. Zudem fällt die Ebene der Erzählgegenwart, die Rückkehr nach Chur gegenüber den Erinnerungen stark ab. Aber das ist unwesentlich im Vergleich zu dem Sog, den die ruhige Erzählweise mehr und mehr entfaltet. Sie trägt die Leser mit sich fort, unabhängig von aller Neugier, was mit Adalina in der Vergangenheit geschehen ist und was mit Johannes Maculin nach seiner Heimkehr geschehen wird.
Dieser Tonfall schafft eine Atmosphäre, einen Raum, in dem man sich geborgen fühlt – trotz der kargen Beschreibungen und der so knappen Dialoge. Nur der Ton bringt den Gegenstand, die Verlorenheit Maculins, zu der Wirkung, die den Stoff über die Schilderung eines einzelnen Schicksals hinaushebt: „Da bist du endlich“, flüstert der Junge hinter der Tür. Und Johannes Maculin muß etwas erwidern, obwohl er die Antwort, auf die der Junge seit vielen Jahren wartet, niemals gewußt hat und niemals wissen wird.
Silvio Huonder: „Adalina“. Roman. Arche-Verlag, Zürich 1997, 260 Seiten, 34 DM
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