: Plötzlich individuell gewordene Mordopfer
■ betr.: „Irritation über Namen“, taz vom 24. 7. 97
[...] Diese Sätze Anita Kuglers, gemünzt auf die von den Schweizer Banken veröffentlichte Liste „nachrichtenloser Konten“, stellt zugleich, wohl unbeabsichtigt, ein in aller Kürze vorzügliches Plädoyer dar zugunsten eines Shoa- Denkmals in Art des Berliner Entwurfs (Christine Jackob-Marks). Bekanntlich wurde der Entwurf von der Jury einschließlich des Vertreters der Bundesregierung gebilligt, dann aber ausgerechnet von unserem gigantischen Bundeskanzler wegen „Gigantismus“ abgelehnt. Die Ablehnung der großen Namenstafel ist verständlich – wer möchte denn auch mit fünf oder sechs Millionen „plötzlich individuell“ gewordenen Mordopfern konfrontiert werden?
Die Einwände sind bekannt, aber nicht durchschlagend. Viele Namen erscheinen mehrfach, aber warum soll nicht zehnmal hintereinander Abraham Stern oder Rebekka Katz stehen? Viele Namen kennt man nicht, aber soll man deswegen auf die bekannten Namen verzichten? Kann nicht für jeden namentlich Unbekannten ein Davidstern oder eine Menora eingemeißelt werden? Das Denkmal kommt in dieser Form zu teuer – ein schamloses Argument angesichts der damaligen Zwangsarbeit und Beraubung der Juden. Außerdem wurde vorgeschlagen, das Denkmal über Jahre hinweg zu gestalten mit entsprechender Verteilung der Kosten. Kein Nachteil, wenn das Denkmal somit lange Zeit im allgemeinen Gespräch bleibt.
Ein Gesichtspunkt zugungsten einer Namensplatte wurde bisher meines Wissens nicht öffentlich vorgebracht: Das Sprechen des jüdischen Totengebets (Kaddisch) erfordert den Namen der/des Verstorbenen. Deshalb müssen jüdische Grabsteine auch für alle Zeiten am Grab stehenbleiben. Umgekehrt hat man aus dem gleichen Grund in früheren Zeiten unehrlich Gestorbenen den Grabstein verweigert. Obwohl ein deutsches Shoa-Denkmal nicht an Juden, sondern an Nichtjuden sich wendet, gäbe eine Namenstafel jüdischen Besuchern die Möglichkeit, über die verschollenen Ermordeten Kaddisch zu sagen.
Es steht zu befürchten, daß der Berliner Entwurf des Shoa- Denkmals in ursprünglicher Form nicht verwirklicht wird. Betrüblich. Möge das, was schließlich ausgeführt wird, nicht allzuweit hinter dem guten Plan zurückbleiben, den die erste Jury gebilligt hat. Helmut Geißlinger
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