■ Höge, Teil 4: Im stillen Auge der Selbstverwirklichung
Carl Einstein nannte die „nordische Kunst“ von Paula Becker- Modersohn und anderen verächtlich „Worpswederei“. Heute wird der „staatlich anerkannte Erholungsort“ am Weyerberg mit dem weiten Himmel überm Teufelsmoor täglich von 5.000 Touristen besucht. 130 Künstler leben dort und 70 Millionäre.
Worpswede wimmelt von „Museen, Kunsttreffs, Galeriepassagen und Malschulen“. Es ist wohl der einzige deutsche Ort, wo am zentralen Parkplatz statt eines Gebührenautomaten ein Bronzebuddha lacht. Noch immer gilt hier die These des ersten „Verschönerungsvereins“: Je mehr Kunst desto weniger Polizei! (Die öffentliche Toilette ist doppelt so groß wie die Wache.) Es gibt ferner zwei kreative Managerschulungszentren und zwei Bordelle, eins für leitende Angestellte und eins für Freischaffende, sowie zwei Atelierhäuser: eins von oben (vom Land) und eins von unten (vom Gatten einer Künstlerin) initiiert: Martin Kausche.
Die gesamte Atmosphäre wird von humanistisch-musisch gebildeten Frauen mit grauen Haarsträhnen geprägt, die sich nun nach Ehe und Kinderaufzucht voll der Selbstverwirklichung hingeben. Erwähnt sei die Worpsweder Lampenfabrikantin Barbara Lippold, die gerade – mit 60 – eine Töpferlehre begann.
Die markanten Gebäude wurden in den zwanziger Jahren im Auftrag des Kaffee-HAG-Gründers und Erfinders des coffeinfreien Kaffees Ludwig Roselius von Bernhard Hoetger entworfen, der erst für die Arbeiterbewegung künstlerisch tätig war und sich dann – vergeblich – Hitler andiente.
Während der Gründer der Künstlerkommune, Heinrich Vogler, nach Rußland auswanderte, wo sein Sohn Jan eine ML- Professur bekam, wurde sein Mitkommunarde Uphoff „Kulturwart“ vor Ort, und der „erste Worpsweder“, Fritz Mackensen, ließ sich mit „Major“ anreden. Er hatte ein Gewehr erfunden, das um die Ecke schoß und das er an die Firma Zeiss verkaufte, die es nach England weiterverscherbelte. Mackensen brachte das die Rüge ein, den Feind unterstützt zu haben. Das Gewehr tauchte erst 1968 in dem Mexiko-Revolutionsfilm „Viva Maria“ wieder auf, nach dem sich dann eine Münchner Kommune benannte.
Nach dem Krieg war es zunächst wieder eine Künstlerin, mit der Worpswede in Schwung kam: Heide Weichberger. Sie war erst mit dem Mexiko-Exilanten und Vogler-Schwiegersohn Gustav Regler liiert, dann mit dem Botaniker und Vagabunden Gustav Schenk, den die Amis zum Bürgermeister von Worpswede machten. Sein Sohn, der Dichter Johannes Schenk, wohnt heute noch im Ort, ebenso sein malender Halbbruder Tobias Weichberger, dessen Vater Philip zuletzt mit ihrer Mutter liiert war.
Wichtig für den Ort wurde ferner der „Edelkommunist“ und Galerist Fritz Netzel. In den fünfziger Jahren gründete er die erste Bürgerinitiative: Sie verhinderte den Abbau des Weyerbergs durch ein Kalksandsteinwerk und wandelte sich dann in eine „unabhängige Wählergemeinschaft“, mit der die Nutzung des Teufelsmoors als Nato-Bombenabwurfplatz abgewehrt wurde, ebenso der SPD-Plan, aus den Hamme- Wiesen ein „Surf- und Badeparadies“ zu machen. Diese „heimliche Regierung“ wurde jedoch 1972 mit der SPD-Gebietsreform, die der bäuerlichen CDU aus den Dörfern eine Mehrheit bescherte, ausgebremst. Erst 1986 versuchten die „Künstler“ – im von Vogler erbauten Bahnhof – einen neuen Anlauf, der sich diesmal auch gegen die „Trittbrettfahrer“ (die Schickimicki-Kunstladenbesitzer) richtete, ihre Partei kam aber nicht über den Stammtisch hinaus. 1994 starb Netzel. Aus seiner Galerie wurde eine Stiftung.
Berühmt ist noch Frau Laves, die Schmuckschmiedin: Zu ihren „Kursen“ – mit echten Sufis, indischen Yogis und dem Indianer Sunbear – reisen authentische Frauen von weither an.
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