Auf Vokalen ganz nach Innen

■ Obertonsänger Alexander Gottwald veröffentlicht seine erste CD und stellt sich demnächst mit Konzerten vor

Alexander Gottwalds Musik hat viel zu tun mit dem, was Stockhausen einmal punktuelle Musik nannte: die jeweils folgenden Töne sind unvorhersehbar, nicht abzuleiten aus dem Vorhergegangenen, weder rhythmisch durch eine Taktordnung, noch melodisch durch thematische Analogien. Was zählt ist nur der Moment, ruhig ein bißchen pathetischer: das Hier und Jetzt.

Aber auch mit John Cages Idee von der Wichtigkeit der Pause oder Giacinto Scelsis Verlangen eher dichter in den einzelnen Ton einzudringen, statt immer mehr Töne zusammenzuclustern hat Gottwalds Obertongesang einige Berührungspunkte. Wie in eigentlich allen Kunstgattungen treffen sich heute Avantgardebestrebungen mit ursprünglichen Kunstpraktiken in auffälliger Weise. Als hätte Kleist mit seiner Idee von der Rückkehr zum Paradies über den Hintereingang doch Recht gehabt. Am Ende wäre man dann wieder am Anfang, nur um einige Erfahrungen reicher. Ganz und gar nicht reich hingegen ist die Musik an Tönen. Ballen sich in der klassischen Partitur Dutzende von Noten auf engstem Raum, so begnügt sich Gottwald über Sekunden hinweg mit der Formung eines einzigen Tons. Fast wie bei den Vokalausgleichsübungen des klassischen Gesangsunterrichts mutiert ein „Ö“in ein „O“und anschließend wieder zum „Ö“zurück. Bekanntschaft mit dieser eigenwilligen Gesangstechnik kann man jetzt auf Gottwalds erster CD machen.

Wie aber kommt ein 28jähriger Mensch mit pfiffiger Stiftelkopffrisur und einer Vorliebe für legere Boxershorts zu dieser radikal meditativen Musik? Natürlich stand am Anfang der klassische Gesang. Als 20jähriger begann Gottwald mit systematischer Ausbildung. Zu spät!-?

„Für meine heutige Musik ist es vermutlich ein Glücksfall, daß meine Stimme in der Jugend nicht geknetet und geformt wurde.“

Nicht gerade viel hält er von der abendländischen Gesangstradition. Als deren Sündenfall erachtet er die temperierte Stimmung, die im 17. Jahrhundert die Oktave in zwölf gleiche Teile tranchierte, unseren Stimmbändern also ein stures, mathematisches Muster aufzwang. „Wenn wir klassisch singen, heißt das, wir singen ,falsch', permanent.“

Erste Ahnungen anderer Möglichkeiten erfuhr Gottwald in einem Konzert des Bremer Obertonsängers Reinhard Schimmelpfeng. Von da an klaubte er sich ganz gezielt seine Anregungen zusammen. Bis nach England führte ihn seine Neugier. Unterricht nahm er bei der Worpswederin Dorothee Fricke, einst Schülerin beim deutschen Obertongesang-Guru Michael Vetter. Weitere Bildungsstation war das Lichtenberger Institut der Gisela Rohmert, „wichtige Anlaufadresse für all diejenigen, deren Stimmbänder in der gewalttätigen, klassischen Ausbildungmaschinerie erkrankten, oder denen ganz einfach beim Singen die Begeisterung abhanden gekommen ist.“Rohmert hat zusammen mit ihrem Mann, einem Naturwissenschaftler, die Physiologie der Stimme bis ins Detail vermessen. Die Lage der Sängerformanten, das sind die unscheinbaren, aber wichtigen Glanzlichter der Stimme, scheint geklärt. Der 3000 Hertz - Formant zum Beispiel wäre demnach lokalisiert im unteren Schädel, und könne durch Konzentration auf die Linie zwischen den beiden Ohren hervorgekitzelt werden.Vor kurzem lernte Gottwald Jill Purce kennen, die Ehefrau des schillernden Zwitters Rupert Sheldrake, Wissenschaftler unter Eso-Scharlatanerieverdacht. Die „Stimmheilerin“interessiert sich für die therapeutischen Effekte des Singens, sowohl für den Sänger, als auch für den Zuhörer.

Und da schließt sich der Kreis zum Ursprung des Obertonsingens. In der Mongolei und in Tuwa dient diese Musik dem Schamanen zur Herstellung einer Beziehung zu den tieferen und höheren Geistern. Trägt im Abendland der Gesang individuelle Gefühle nach außen zu den Mitmenschen, möglichst raumfüllend, am besten den der Scala oder Met, so geht der Obertongesang nach innen. bk

Gottwald gibt nicht nur Gesangsunterricht, sondern auch Konzerte, am 25.9. im Viertel, am 28.9. in der Osterneulandkirche–