Ein wenig besser als Wut und Ausschlag

■ Neu im Kino: „Karriere Girls“von Mike Leigh

Ein böser, fast zynischer Titel: Die eine hat gelernt, ihre destruktive Wut zu beherrschen; die andere leidet nicht mehr so offensichtlich an ihrer psychosomatischen Hautkrankheit. Und die Freundinnen Hannah und Annie führen ein geregeltes Mittelstandsleben – das ist schon die ganze Karriere, von der Mike Leigh in seinem neuen Film erzählt. Die beiden haben in den 80er Jahren eine Zeitlang in einer gammeligen Londoner Wohngemeinschaft gelebt, zehn Jahre später kommt Annie für ein Wochenende Hannah besuchen, und die beiden erinnern sich an ihre schon mehr psychotische als nur wilde Vergangenheit.

All jene, die bei „Lügen und Geheimnisse“so schön mitgeweint haben, seien gleich gewarnt: Mike Leighs neuer Film schließt eher an seinen vorletzten Film „Naked“an, als an seinen großen internationalen Erfolg vom letzten Jahr. Wie damals mutet der britische Regisseur seinem Publikum viel zu: Ruppige, stachlige Störenfriede portraitiert er mit einem genauen Blick aufs möglichst enervierende Detail. So schockiert Hannah den Zuschauer zuerst durch ihre extrem aggressiven Umgangsformen: Jeder Satz besteht bei ihr aus mindestens einer sarkastischen Beleidigung, und sie redet so schnell, daß die Synchronisation kaum mitkommen kann. Von Annie sehen wir zuerst das Ekzem an der Wange, dann bemerken wir ihre fahrig-nervösen Bewegungen, hören ihre unangenehm hohe Synchronstimme, und beginnen uns vor dem Rest des Films zu fürchten.

Dieses Gambit beherrscht Leigh meisterlich: schon in seinem ersten großen Erfolg „High Hopes“stellte er seine Filmhelden zuerst als so unattraktive, verloderte Hippies vor, daß man den Mief in ihrer WG fast riechen konnte. Mit diesem Mut zur Häßlichkeit fasziniert er uns zuerst, dann lachen wir über die oft wirklich bösen Karikaturen, und langsam beginnen dann seine Protagonisten immer authenischer und menschlicher zu werden. Etwa zum Ende des ersten Aktes hat er uns die Figuren dann schon viel näher gebracht, als wir es zuerst für möglich gehalten hätten.

So erkennt man die Schutzmauer, die Hannah mit ihren fast gebellten Witzen zwischen sich und den anderen aufbaut, und durchschaut schnell, wieviel Verletzlichkeit sie hinter der toughen Fassade verbirgt. Und Annie ist sowohl körperlich wie auch seelisch so wund, weil sie alles an sich heranläßt – die beiden sind also absolute Gegenpole. Langsam beginnt man zu verstehen, warum ihre Freundschaft zwar alles andere ist als ungetrübte Solidarität unter Frauen, aber doch erstaunlich solide.

„Karriere Girls“hat kaum einen Plot, den man nacherzählen kann. Der Film wird durch seine simple Zweiteilung strukturiert: man sieht Hannah und Annie bei ihrem Wochenende in den 90ern, und zu ihren Erinnerungen werden jeweils die passenden Rückblenden aus den 80ern eingeschnitten. Leigh arbeitet nicht mit einem festen Drehbuch, sondern er läßt die SchauspielerInnen die einzelnen Szenen durch Improvisationen bei den Proben erarbeiten. So sind Karin Cartlidge (Hannah) und Lynda Steadman (Annie) mehr als nur die Hauptdarstellerinnen des Films, und dieser überzeugt in erster Linie deshalb, weil die beiden sich so intensiv, radikal und uneitel auf die Figuren eingelassen haben. „Karriere Girls“ist in weiten Teilen ein reines Zweipersonenstück. In den anderen Szenen sind die Freunde und WG-Mitbewohner durchweg ebenso schräg und extrem gezeichnet wie die beiden. Wenn sie ihnen in den 90ern wiederbegegnen, sieht man an ihrer Entwicklung, daß „Karriere Girls“dann doch eine bescheidenen Erfolgsstory erzählt: Der eine ist zum erfolgsgeilen Yuppie erstarrt, der andere ist endgültig in die Psychose gerutscht, und so mag es schon etwas Trost spenden, wenn Hannah und Annie sich als adrette Erwachsene und gute Freundinnen auf dem Bahnhof „Auf Wiedersehn“sagen können.

Wilfried Hippen

Schauburg