: Mein erstes Mal
■ Heute: Ernst Kahl, Zeichner, Schriftsteller, Drehbuchautor und Sänger, über Händel, Lavendelduft und den Hauch Blauviolett im Antlitz einer erkalteten Dame, kurz: über die erste Leiche seines Lebens
Mein Vorgesetzter hieß Heini und war im Krankenhaus für Heizung und Leichen zuständig. Im Weltkrieg hatte er ab neunzehnhundertdreiundvierzig die Aufgabe, bei der Rückführung Gefallener mitzuhelfen. Die hier und da verscharrten Halbverwesten hatten ausgebuddelt und weit weg vom Russen auf Sammelfriedhöfen wieder eingebuddelt zu werden. Die Arbeit jetzt in der Prosektur des Krankenhauses sei für ihn gegen früher reinstes Zuckerschlecken, sagt Heini. Er war ein Abgehärteter.
Mein zweiter Arbeitstag. Wir saßen im Heizungskeller, tranken Kaffee zum Kuchen, den Heini in der Küche organisiert hatte. Er zeigte mir seinen Kugelschreiber mit einer Bikinischönheit drauf. Wenn Heini die Mine deckenwärts hielt, verschwand der Bikini. Die Dame stand praktisch nackt da, entkleidet wie von Geisterhand. Sie müssen wissen, liebe Leserin, lieber Leser, ich war gerade mal zwanzig. Es waren die Zeiten noch nicht so offenherzig, und das Phänomen wirkte einigermaßen erregend auf mich.
Heini hielt die Mine bodenwärts, das Mädchen hatte den Bikini wieder an, er hielt die Mine nach oben... als es hieß, wir hätten eine kleine Leichenschau in die Wege zu leiten. Angehörige wären im Anmarsch, um sich das erkaltete Fleisch ihrer verstorbenen Tante optisch zu Gemüte zu führen. Auf deutsch: Abschied nehmen. Ich gönnte mir einen kräftigen Schluck aus der Stohnsdorferflasche, dann ab in die Prosektur, wo es nach, wie soll ich sagen? Nirgendwo anders riecht es so.
Zum ersten Mal in meinem Leben sollte ich mit dem Anblick einer Leiche konfrontiert werden. Ich tat ganz gelassen, aber hielt doch den Atem an, als Heini einen der metallenen Kühlschrankwandtüren öffnete und die flache Wanne mit der bleichen Dame hervorzog. Bleich? Gelb war sie mit einem Hauch Blauviolett!
Wir hievten die Wanne auf ein rollbares Metallgestell, das Heini mit Hilfe maßgeschneiderten Stoffes ruckzuck in einen edlen Katafalk verwandelte. Und obendrein die Tante. Über schwarzem Tuch ihre zusammengelegten Hände, ihr Kopf auf dunklem Kissen. Im Besucherraum nebenan zündete ich die Kerzen des Kandelaberleuchters an, legte die Langspielplatte mit Händels diversen Largos auf und versüßte die Luft mit einem Schuß Lavendelduft aus der Sprühdose. Als ich zurückkam, war Heini fast fertig mit dem Schminken. Sie, deren Antlitz mir vor wenigen Minuten gescheckt und verdorrt erschien, hatte er in eine schlafende Rose verwandelt.
Ich weiß noch wie wenn es gestern wäre, daß ich sagte: „Findest du das nicht ein bißchen übertrieben?“Doch wie's sich im Laufe unserer einjährigen Zusammenarbeit herausstellen sollte, hatte Heini ein ganz eigenes Verhältnis zu seinen leblosen Schützlingen entwickelt. Obwohl verheiratet, übernachtete er manchmal im Raum zwei Türen weiter, in dem die reparaturbedürftigen Betten standen. Und beim Schminken ließ er sich nicht reinreden. Unter uns: er war ein verhinderter Maskenbildner, als zaghaft an die Tür geklopft wurde. „Moment!“rief Heini, „wir sind gleich soweit!“zog einen Kamm aus seinem Overall und machte sich an ihre Frisur. Während ich ein Kunstblumenbukett aus seinem Requisitenschrank holte und ihn unter die Hände schob, gab er ihrem dünnen Haar mit Taftspray Halt. Fertig. Ich öffnete die Tür zum Besucherraum und begrüßte das Fähnlein bedröppelt dreinblickender Angehöriger mit beileidsvollem Nicken. Ich kam mir vor wie bei einer Weihnachtsbescherung, als Heini den Katafalk Richtung Kandelaberleuchter rollte, doch dann stellte sich heraus, daß es die falsche Leiche war. Irritiert legte Heini ihren Fuß frei und las den Namen, der auf dem am großen Zeh angebrachten Preisschild stand: Dora Schmidt. Die Verwandtschaft aber hatte von einer Dörthe Schmidt Abschied nehmen wollen. Irritiert verschwand Heini mit Dora in der Prosektion, um kurz darauf erleichtert zu verkünden, daß Dörthe in cirka 20 Minuten zur Verfügung stehe, die Verwandtschaft möge sich draußen solange die Beine vertreten. Beim Leichenaustausch war Heini kurzfristig zornig. Aber als er an's Schminken ging, hellte seine Miene sich allmählich wieder auf.
Ernst Kahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen