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Familienrallye im fahrbaren Wohnzimmer

■ Detailverliebt: Jim Whiting und sein merkwürdiger Maschinenpark in Leipzig

Ob Gruselkabinett, Erlebnispark, „Spaceworld“ oder Märchenwald – gern wird die reale Welt mit Phantasielandschaften zugepflastert. Auch in der Kunst existiert die Idee vom Raum im Raum. Das amerikanische Künstlerpaar Edward und Nancy Kienholz bildete ganze Straßenzüge nach („Hurengracht“), Les amis du musée aus Frankreich wiederum bauen Dörfer aus Stoff, die ein Museum mit merkwürdigen Maschinen beherbergen.

Der englische Performance- und Aktionskünstler Jim Whiting hat Teile der Leipziger Großinstallation „Bimbotown“ (in England ist „bimbo“ laut Whiting ein Slangausdruck für „aufgedonnerte Manta-Mieze“) schon in verschiedenen Zusammenhängen gezeigt: die „Unnatural Bodies“, Körperteile aus Metall und Stoff, die mechanisch angetrieben werden, wurden 1983 für das Herbie-Hancock- Video „Rockit“ gebaut, und die rollenden Schränke fuhren auch schon 1992 in der Basler Galerie Littmann umher. Aber in ihrer Gesamtheit ist die Kultur- und Kunst- landschaft „Bimbotown“, die Whiting in einer 2.800 Quadratmeter großen Halle des agra-Messeparks konstruiert hat, absolut einzigartig.

Allein aus gebrauchten, ausrangierten Materialien und Möbeln hat der Maschinenkünstler mit seiner fünfköpfigen Truppe nach knapp zwei Jahren in der unwirtlichen Leipziger Vorstadt Markkleeberg eine neue Welt geschaffen. In Bimbotown bewegen sich die Sessel und Sofas, Bürointerieurs auf fahrbaren Plattformen kreuzen den Weg von rollenden Doppelbetten und einer ganzen Bar auf Rädern. Kleidung an Bügeln fliegt vorbei und wischt durch die Gesichter der Besucher, Hocker hüpfen ferngesteuert auf und ab – alles zur Freude des Publikums.

In der buntbeleuchteten und lauten Phantasiewelt kann der Besucher mit allen Exponaten interagieren, er kann anfassen, hinaufklettern, aufsteigen und herausgucken. Ein „Zoo“ mit metallenen, pneumatisch bewegten Tieren erwacht jeden Freitag zum Leben, im „Ravewaggon“ kann zu entsprechenden Sounds getanzt werden, und auf einer Bühne vor einer kleinen Schloßkulisse treten Künstler aus aller Welt auf. Jim Whiting liebt die Reaktionen des Publikums: „Ich habe einen Fotoapparat in einen der beweglichen Sessel eingebaut. Immer wenn der Sessel seine Armlehnen plötzlich um den erschrockenen Sitzenden schlingt, wird ein Schnappschuß von seinem Gesicht gemacht...“

Die Kunstwerke des 46jährigen Whiting bilden ein unterhaltsames Ensemble, positiv und amüsant: „Ich möchte die Leute erfreuen, nicht ihnen angst machen.“ Besonders schön findet er, wenn „erwachsene, schwere Männer auf den Sofas sitzen und sich plötzlich wie die Kinder freuen, wenn das Möbelstück langsam meterhoch über den Boden aufsteigt“. Das Schauspiel sei, so Whiting, nicht in Worte zu fassen, er baut eben gern und viel an seinem Phantasiespielplatz, am liebsten „mit altem, gebrauchtem Material, das eine Geschichte hat“. Was er den Leuten mitgeben möchte, ist ein schönes Erlebnis. Und das funktioniert. Um die 400 Besucher lümmeln sich freitags auf den mechanischen Möbeln herum, Leipziger Familien flitzen in einem fahrbaren Wohnzimmer vorbei, Pärchen knutschen im unter der Decke hängenden Lkw-Reifen.

Die Liebe zum Detail ist überall ersichtlich, jede kleinste Ecke ist eine Collage aus bunten, lustigen Bildern und Dingen, hinter jedem derangierten Fensterrahmen lauert eine Überraschung – an diesem Freitag leider zum letzten Mal. Jennifer Zylka

Bimbotown, agra-Halle 44, Robert-Koch-Straße 31, 04416 Leipzig-Markkleeberg, am 29.8. ab 21.30 Uhr große Abschiedsparty u.a. mit: Theatre of hell (Amsterdam), Villborg, Torschlußpanik.

Bus-Shuttle nach Leipzig ab Alexanderplatz, Nachtbushaltestelle hinter Hotel Forum. 1. Bus in der Schlange beim Schild „Stadtrundfahrten“, Busunternehmen „Kleine Fluchten“, Abfahrt 19 Uhr

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