: Mikro am Stammtisch, 1977
■ „Wer hat Angst vor dem Milchmann“und andere Ängste: Der Hamburger Autor und Filmemacher Theo Gallehr über sein zensiertes Hörspiel
Im Herbst 1977, Höhepunkt des deutschen Terrorismus' und der RAF-Hysterie, packte Theo Gallehr sein Mikrophon ein und reiste durch die Bundesrepublik. Die Route: Von Stammtisch zu Stammtisch. Das Ergebnis: Wer hat Angst vor dem Milchmann, ein Dokumentar-Hörspiel für den NDR. Doch der Auftraggeber von der Rothenbaumchaussee, „kein Sympathisantensender“, verweigerte die Ausstrahlung. Morgen, 20 Jahre nach Mogadischu und Schleyer-Entführung, wird das Hörspiel von Radio Bremen gesendet.
Wie kamen Sie auf die Idee zu dem Hörspiel?
Ich war zu der Zeit für ein Projekt namens Gesprochene Geschichte unterwegs, für das ich Erinnerungen alter Menschen aufzeichnete. So bin ich mitten reingekommen in diese „Rübe ab“-Hysterie des Deutschen Herbstes. Ich beschloß, das Projekt erstmal aufzugeben und mich an die Stammtische zu setzen, um zu dokumentieren, was da so geredet wird.
Wie waren Ihre Erlebnisse?
Ich war ziemlich parteiisch...
Für wen?
Natürlich für die Richtigen. Das hat man mir beim NDR ja auch vorgeworfen. Einmal habe ich sogar eine lebensbedrohliche Situation erlebt, in einer Kneipe in Alsfeld, Nordhessen. Da hat ein Typ mir seine Pistole gezeigt und hat gesagt: „Wenn ich einem Sympathisanten begegne, den lege ich um.“Mit der Zeit wurde es immer deutlicher, daß ich zu dieser Sorte Leute gehöre. Ich hatte wahnsinnige Angst und habe mich klammheimlich davongemacht. Ein anderes Beispiel: Als ich die Rede am Grab von Baader/Ensslin aufgenommen habe, wurde ich von der Polizei stark behindert. Da habe ich den Polizeistaat richtig gespürt. Das waren die beiden negativen Höhepunkte, die direkten Bedrohungen.
Ansonsten ließ es einem natürlich auch das Blut gefrieren, als man vielerorts merkte, was für eine schreckliche Mentalität herrschte. Es gab aber auch besonnene Leute. Ich glaube, in meinem Hörspiel habe ich diesen aber keinen ausreichenden Raum gewidmet, da ich damals so empört war.
Warum wurde ihr Hörspiel nicht vom NDR gesendet?
Das Hörspiel wurde erst genehmigt, dann gab es wohl aus einer höheren Ebene Vorbehalte. Derselbe Redakteur, der das Hörspiel zuvor abgenommen hatte, sagte mir, so könne man das nicht senden. Er verlangte, daß ich die Grabrede rausschneide und noch einiges andere. Ich konnte und wollte diese Auflagen nicht erfüllen. Gottseidank gab es bei Radio Bremen einen Hörspiel-Redakteur, der davon sehr angetan war und es senden wollte. Kurze Zeit später wurde Wer hat Angst vor dem Milchmann Hörspiel des Monats. Daraufhin haben vier andere Sender das Hörspiel auch gesendet.
Wie sehen Sie seine Bedeutung heute?
Im Hörspiel kam etwas zum Vorschein, was latent noch immer in der Gesellschaft vorhanden ist. Ich denke, daß es heute möglich wäre, innerhalb von zwei Wochen drei KZ-Bewachungskommandos zu finden, die sich genauso verhalten würden wie damals im „Dritten Reich“.
Was wird über das Verhältnis zwischen Terroristen und den Menschen, die Terrorismus verurteilen, ausgesagt?
Die Angepaßten haben keine Brücke zu den Nichtangepaßten. Sie können sich ein nicht angepaßtes Leben überhaupt nicht vorstellen und kriminalisieren es deshalb.
Hat sich Ihre Sympathie zur RAF im Laufe der Jahre geändert?
Ich bin bei diesem Thema befangen. Ich war mit Andreas Baader in München befreundet, lange bevor er sich dieser Szene anschloß. Er hat mich einmal aus einer Patsche rausgeholt, dafür bin ich ihm immer dankbar gewesen. Ich hatte aber auch Angst, muß ich ehrlich sagen, daß er, als die große Hetzjagd war, bei mir auftaucht und mich fragt: Kann ich nicht mal bei Dir unterkommen? Ich hätte es natürlich gemacht, bin aber froh, daß er nicht gekommen ist.
Würden Sie dieses Hörspiel noch einmal produzieren?
Auf jeden Fall. Ich würde es wie damals machen – und zwar genauso. Fragen: Oliver Nachtwey
Sendung morgen, 17.15 Uhr, Radio Bremen 2, UKW 88,3
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