: Nur noch die Notwehr verrichten
Verbrechens-Studie stützt Kritik an Hamburger Justiz: Jugendkriminalität steigt, die Staatsanwaltschaft ist völlig überlastet ■ Von Elke Spanner
Immer mehr Jugendliche in Hamburg begehen Straftaten – und immer seltener werden sie dafür bestraft. Beides zusammen bedeutet für den renommierten Kriminologen Christian Pfeiffer: „Die Bekämpfung der Jugendkriminalität ist in der Hansestadt zu reiner Formblattjustiz verkommen.“Diese Zwischenbilanz zieht der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen in einer Studie für den Hamburger Senat, die vom ARD-Magazin Panorama veröffentlicht wurde.
Senatssprecher Franz Klein wies gestern den Vorwurf zurück, die Expertise würde seit Monaten unter Verschluß gehalten: „Der erste Teil war zwar im Sommer fertig, Ergänzungen sind aber noch in Arbeit.“Die Studie „Jugenddelinquenz und jugendstrafrechtliche Praxis“habe man in Auftrag gegeben, weil die polizeiliche Kriminalstatistik nicht ausreichend sei.
Festgestellt hat Pfeiffer bisher, daß die Kriminalität unter den 25-30jährigen nur geringfügig angestiegen sei, während es im Bereich der 14- bis 18jährigen einen regelrechten „Flächenbrand“gegeben habe. Bemerkenswert ist, daß sich die Delikte fast nie gegen ältere Menschen richten, sondern nahezu ausschließlich gegen andere Jugendliche bis zu 21 Jahren. Die Law-and-Order-Sprüche, mit denen Hamburgs Parteien derzeit bei den Wahlberechtigten auf Stimmenfang gehen, dürften somit an der Realität vorbeigehen.
Nicht zerschlagen hat sich hingegen die Kritik an der Hamburger Justiz. Den Deliktsanstieg erklärt Pfeiffer vor allem damit, daß Straftaten immer weniger sanktioniert würden. Verfahren würden um 237 Prozent häufiger als noch vor sechs Jahren eingestellt, die wenigsten Verdächtigten würden jemals einem Staatsanwalt vorgestellt werden – selbst bei wiederholter Körperverletzung.
Seit Mitte der 80er Jahre habe auch die Anzahl der Jugend- und Freiheitsstrafen abgenommen, und zwar um 53 Prozent. Selbst mildere Sanktionen, wie etwa eine Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit oder zu einer Geldbuße, würden um 72 beziehungsweise um 64 Prozent seltener verhängt. Auch würden die tauglichen Mittel im Jugendstrafrecht, etwa den Täter mit dem Opfer zu konfrontieren, nicht hinreichend genutzt.
Die Erklärung Pfeiffers: Die Jugendstaatsanwälte seien gnadenlos überlastet. Rund 187 neue Fälle hätten sie pro Monat zu bearbeiten. Die Jugendkriminalität würde nur noch verwaltet, aus „Notwehr“würden Ermittlungen häufig eingestellt. Dem stimmt Justizsenator Wolfgang Hoffmann-Riem (parteilos) „im Kern“zu. Er will sich nun verstärkt für Reaktionen unterhalb von Gefängnisstrafen, etwa den Täter-Opfer-Ausgleich, einsetzen.
Pfeiffer fordert, die Hamburger Staatsanwaltschaft müsse durch zusätzliche Planstellen entlastet werden. Hingegen warnt er nachdrücklich vor dem Ruf nach Freiheitsstrafen: „Knast bei jungen Menschen ist der beste Weg, einen stabilen Rückfalltäter zu erzeugen“, denn das Jugendgefängnis sei ein Ort, an dem „das Stemmen von Gewichten die wichtigste Freizeitbeschäftigung ist“.
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