Dichter-Ich, Dichter-Nicht-Ich etc.
: Unter Umständen gar nicht so relevant

■ „Tunnel über der Spree“ im Literarischen Colloquium Berlin

Wenn im Herbst die Blätter fallen, häufen sich in den Feuilletons Erklärungen wie diese: Es wird zu viel geschrieben – das liegt am Computer. Es wird zu viel gedruckt – das liegt an den schlechten Lektoraten. Es wird zu wenig gelesen – das liegt daran, daß zu viel gedruckt wird. Für Burkhard Spinnen sind das „mediale Brauchtumssätze“, die durch häufige Benutzung nicht richtiger werden. Doch sie bezeichnen die Herausforderung, die es für die Autoren bedeutet, angesichts von jährlich 70.000 Neuerscheinungen trotzdem noch einen schmalen Lyrikband, eine kleine Erzählung nicht nur zu schreiben, sondern auch auf den Markt zu tragen. „Überdruß und Überfluß“, das Thema des in diesem Jahr zum siebten Mal stattfindenden Schriftstellertreffens „Tunnel über der Spree“ im Literarischen Colloquium Berlin, schien demnach nicht schlecht gewählt – und es war symptomatisch, daß die Teilnehmer es fast ausschließlich auf sich selbst und die Literaturproduktion bezogen. Nur die Strategien der Gegenwehr unterschieden sich. Die Lyrikerin Brigitte Oleschinski beharrte angesichts des Überflusses darauf, „das Staubkorn zu reiten“, und plädierte für Minimalismus der Form und Konzentration der Aussage: Weniger ist mehr. Der zum Dozenten gereifte Burkhard Spinnen definierte den Überfluß als Reichtum und lebensnotwendiges Prinzip: Bedingung dynamischer Entwicklung. Junggenie Steffen Kopetzky versuchte, die Vorstellung einer Subjektivität zu entfalten, die durch die verfaßte Form des Textes entsteht: kein Überdruß am Überfluß, sondern Freude an der Differenz und daran, das selbstbewußte Ego auszustaffieren. Gut, daß es neben so viel Selbststilisierung auch noch Menschen wie Katja Lange-Müller gibt. „Ick fand sehr sympathisch, daß Sie während Ihret Vortrags so jeschwitzt haben“, wandte sie sich an Kopetzky. Das zeige doch, daß man nicht verhindern könne, „als lebender Organismus der Wirklichkeit permanent ausgesetzt“ zu sein.

Ob schwitzend oder nicht: Zunft-Treffen dienen immer dazu, das Standesbewußtsein zu pflegen und das „Ich“ zu stärken, ohne das in der Literatur nichts mehr geht. Nachdem die Autoren das Monopol des Geschichtenerzählens an den Film verloren haben und ihnen der Wille zu gesellschaftlichem „Engagement“ nachhaltig ausgetrieben wurde, scheint nur noch die permanente Feier des eigenen Ich im formalen Experiment übrigzubleiben. Wenn es stimmt, wie ein Kritiker zur documenta schrieb, daß es keine Kunst mehr gibt, sondern nur noch Künstler, dann gibt es vielleicht bald auch keine Literatur mehr, sondern nur noch Literaten. Und ihre Arbeit besteht darin, dem von Steffen Kopetzky ausgesprochenen schrecklichen Verdacht zu wehren, „unter Umständen gar nicht so relevant zu sein, wie man selbst denkt“. Als Prototyp dieser Haltung kann Alban Nikolai Herbst gelten, ein genialischer Glatzkopf mit ausgeprägtem Ego. Sein Vortrag beschäftigte sich zwar listig mit dem Verschwinden des Autors: Herbst erklärte kokett, seit 15 Jahren nicht mehr geschrieben zu haben. Damals habe er einen gewissen Hans Deters getroffen und mit ihm sogleich vereinbart, dessen Texten seinen Körper zu leihen. Deters schreibe – aber er veröffentliche nicht. Er, Herbst selbst, veröffentliche – und schreibe nicht. Das sei ihr perfektes Arrangement. Herbst erklärte damit den Autor zum „Artefakt“, der wie ein Text und mit ihm geschaffen wird. Doch daraus resultiert eben nicht sein Verschwinden, sondern die gesteigerte Sorgfalt, die auf diesen permanenten Schöpfungsakt zu verwenden ist. Da verwundert es nicht, daß Herbst seine Texte weniger schreibt, als ejakuliert.

Es dauerte einige Zeit, bis sich der Österreicher Robert Schindel damit zu Wort meldete, daß „in die Sprache gegenwärtige Wirklichkeit einsickern“ müsse. Da nickte die Runde – Stimmt eigentlich, die Wirklichkeit haben wir ganz vergessen! –, nur Herbst widersprach: Wirklichkeit interessiere ihn nicht, die dränge sich sowieso in jeden Text, es komme vielmehr darauf an, etwas zu schreiben, was zur Wirklichkeit hinzukommt. – Und wieder nickten die Dichter.

Es ist ja nichts dagegen zu sagen, daß Schriftsteller für zwei Tage zusammenkommen. Der seltsame Name des Treffens bezieht sich übrigens auf eine Literatenversammlung des 19. Jahrhunderts, deren Mittelpunkt Theodor Fontane bildete. Damals wie heute kam man zusammen, um sich Texte vorzulesen und der Kritik zu stellen. Dabei geht es ausschließlich um handwerkliche Fragen und nicht um gesellschaftliche Probleme. Daß bei der Dominanz einer Ästhetik des entfesselten Ich die Lyrik-Lesungen (von Ernest Wichner, Ursula Krechel, Elke Erb und Robert Schindel) auf besonderes Interesse stießen, die traditionellen, erzählerischen Texte dagegen äußerst schwach waren, nimmt nicht Wunder: Es gibt scheinbar nichts zu erzählen, so daß man sich – wie Peter Henning – mit vorgefertigten Klischees behelfen muß.

Gäbe es einen „Tunnel“- Preis – wie früher in der Gruppe 47 – hätte ihn sicherlich Andreas Neumeister erhalten. Er las aus einem Textsampler mit dem Titel „Plus – Prima leben und sparen“ – einer Reflexion über das ausgehende Jahrtausend, einer Art Generationsroman ohne erzählte Geschichte und darüber hinaus ein witziger Beitrag zur Debatte um Überdruß und Überfluß: „Noch nie liefen so viele klasse Filme gleichzeitig im Fernsehen. Das Problem ist nur, ob man sie mitkriegt.“ Und bei Neumeister fand sich auch die zaghafte Formulierung der bescheidenen Utopie der Gegenwart: „Was mir vorschwebt ist ein Jetset-Dasein, und sei es auf niedrigem Niveau.“ Jörg Magenau