: Verdorrte Äste am Stammbaum
Der Mensch vernichtet seine nächsten Verwandten. Über die Hälfte der Primaten ist vom Aussterben bedroht. Das World Watch Institute ruft zu einer Rettungsaktion auf ■ Aus Washington Peter Tautfest
Die Rettungsaktion machte Schlagzeilen und löste Diskussionen aus. Binti Jua hatte ein Kind, das durch das Gitter des Affenkäfigs im Chicagoer Zoo geklettert und herabgestürzt war, in ihren Armen geborgen und vom Ort des Unfalls getragen. Das Kind, damals drei Jahre alt, überlebte. Binti Jua, damals acht und Mutter eines Gorillababys, wurde zur Heldin. Sind Hilfsbereitschaft und Güte Eigenschaften, die auch bei Tieren zu finden sind? Ist der Mensch mit dem Tierreich nicht nur genetisch, sondern auch emotional verwandt? Kokos Reaktion war schlichter: „Good girl“ (gutes Mädchen), sagte sie nur, als man ihr das Amateurvideo von der Rettungsaktion zeigte. Koko ist die Tante von Binti und hatte 1970 Schlagzeilen damit gemacht, daß sie das erste Tier war, das sich in Taubstummensprache mit Menschen verständigen konnte.
So gut wie die Affen zum Menschen sind diese nicht zu ihnen. Das World Watch Institute stellte jetzt einen Bericht zur Lage der Affen vor und veröffentlicht in der Septemberausgabe seiner Zeitschrift unter dem Titel „Das Absterben des Familienstammbaums“ einen dramatischen Appell zur Rettung der vom Untergang bedrohten Primaten.
Die 233 Arten, einschließlich der sogenannten Menschenaffen, bilden die größte Gruppe vom Aussterben bedrohter Säugetiere. Die Hälfte gilt als bedroht, weitere 20 Prozent als gefährdet. Daß Fische und Insekten, Reptilien und Schnecken, Wirbeltiere und Wirbellose, ja sogar Säugetiere an Zahl und Vielfalt zurückgehen, damit haben Menschen sich schon fast abgefunden. Daß jetzt auch Geschöpfe bedroht sind, die zu unseren nächsten Verwandten zählen – 98,4 Prozent der Gene teilen sich Menschen und Schimpansen –, diese Erkenntnis führt vielleicht dazu, daß wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz der Arten ergriffen werden, hofft John Tuxill, Forscher am World Watch Institute in Washington und Autor der Studie.
Vor zehntausend Jahren, nach der letzten Eiszeit, waren die Menschen noch eine vergleichsweise kleine Gruppe unter den Primaten. Während ihre Zahl jahrtausendelang um 10 Millionen schwankte, betrug allein die Pavianpopulation 20 bis 40 Millionen. Das Menschengeschlecht aber erwies sich noch vor den Affen als die anpassungsfähigste Gattung und vermehrte sich vor allem nach der Einführung der Landwirtschaft exponentiell. Damit begann das Zurückdrängen der anderen Primaten. So zerstörten die Menschen allein in den tausend Jahren, in denen sie Madagaskar kolonisierten, auf der Insel 80 Prozent der Urwälder und trieben noch vor Ankunft der Europäer fünfzehn Lemurenarten – die ältesten der heute noch lebenden Primatenarten – in den Untergang. Von den dort noch lebenden dreißig Affenarten sind zwanzig vom Aussterben bedroht.
Die größte Bedrohung der Affen geht von der Einschränkung ihres Lebensraumes aus. Da sie in der Mehrzahl im tropischen Grüngürtel der Erde leben, hängt ihre Zukunft vom Schicksal der tropischen Regenwälder ab. Durch Holzeinschlag und Rodung zur Schaffung landwirtschaftlicher Nutzfläche sind allein in Südostasien 90 Prozent der Primaten an den Rand des Untergangs gedrängt worden. Das führt zum Beispiel in Japan dazu, daß Affen sich über Kulturpflanzen hermachen. Von den fünfzigtausend auf den japanischen Inseln lebenden Makaken-Äffchen werden jährlich fünftausend umgebracht – „ein Bürgerkrieg zwischen Bauern und Affen“, wie Primatologen diese Tragödie bezeichnen.
In den Regenwäldern Afrikas sind die Affen vor allem durch eine Koalition aus Jägern und der Holzindustrie bedroht. Gelten Affen in vielen Teilen Afrikas auch als tabu, so werden sie in anderen traditionell als Wild gejagt. Heute sind sie durch die Schneisen und Zufahrtswege bedroht, die Holzfäller in den Busch schlagen und auf denen Jäger Zugang zu den letzten Refugien der Affen bekommen. Holzfirmen geben den Jägern Munition und Waffen im Tausch gegen Affenfleisch, das sie dann als Teil des Lohns an die Holzfäller weitergeben. Allein in Gabun kommen vier Millionen Kilogramm Wildfleisch jährlich auf den Markt, wovon ein Viertel Affenfleisch sein soll. Daß trotz des Drucks auf die Primaten seit Ende des 18. Jahrhunderts keine Affenart mehr ausstarb, ist nur auf deren Anpassungsfähigkeit zurückzuführen. Doch der sind engere Grenzen als beim Menschen gesetzt.
„Charismatische Megafauna“ nennt man die großen Tierarten, die in der Lage sind, Anteilnahme, ja verwandtschaftliche Gefühle bei Menschen auszulösen. Wale, Nashörner, Tiger, Riesenrobben und Elefanten haben davon profitiert – und es sieht ganz so aus, also sollten die Affen eine neue Kampagne des Tier- und Umweltschutzes anführen, zu dessen Emblem sie ebenso werden sollen wie in den 70er und 80er Jahren Wale und Pandas. Große Tiere spielen eine wichtige Rolle im ökologischen Haushalt – allein schon dadurch, daß sie einen großen Lebensraum beanspruchen. Durch ihre Weitschweifigkeit tragen sie zur Verbreitung von Pflanzen bei. Einige Pflanzenarten würden sich ohne ihre Hilfe überhaupt nicht fortpflanzen. Der bis zu 12 Zentimeter große Samen des Maobi- Baumes zum Beispiel kann nur im Verdauungstrakt von Gorillas und Elefanten so zersetzt werden, daß er keimfähig wird. Tuxill spricht von der Flaggschiffunktion der Affen. Das heißt, die Rettung der Affen dient der Rettung der Regenwälder – und umgekehrt.
Daß der Genpool des Regenwaldes noch so mancher Entdeckung durch die Pharmakologie harrt, ist bekannt. Daß die Affen bei diesen Entdeckungen behilflich sein können, ist hingegen neu. Wie um die Warnungen Tuxills vorwegnehmend zu bestätigen, veröffentlichte Michael Huffman vom Primate Research Institute an der Universität von Kyoto 1996 das Ergebnis langjähriger Studien, bei denen Schimpansen beobachtet wurden, die ganze Aspiliablätter unzerkaut verschlangen, wenn sie von Durchfällen und Parasiten geplagt wurden. Untersuchungen der Blätter auf Wirkstoffe blieben ergebnislos. Erst jahrelange Beobachtungen der Verhaltensweisen der Affen gewährten Einblick in das komplizierte mechanische und chemische Zusammenwirken von Blättern, Parasiten und deren Larven im Verdauungstrakt der Affen. Die Blätter sorgen dafür, daß die Parasiten ausgeschieden werden. „Die Zeit für derartige Beobachtungen geht zu Ende“, schreibt Huffman in seiner Studie, „denn eine wachsende Zahl von Pflanzen- und Tierarten ist durch den Vormarsch des Menschen auf ihren Lebensraum bedroht.“
Die Affen um der Wälder willen und die Wälder um der Affen willen zu schützen, sei eine wunderbare Idee, sagt Steve Gartlan vom World Wide Fund for Nature (WWF) und sieht die Sache zugleich realistisch, und das heißt sehr pessimistisch: Afrikas Bevölkerung werde sich in den nächsten zwanzig Jahren verdoppeln. Die meisten Wälder werden dann gerodet, gefällt und verbrannt sein. Der Bevölkerungsdruck auf die Regenwälder wird es nahezu unmöglich machen sie zu schützen. Wer sich das nicht klarmacht, werde eine Alles-oder-nichts- Politik betreiben und notwendig scheitern.
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