Das Fenster meines Todes

Hysterisch, besessen und leicht kitschig: Zum 100. Geburtstag von Georges Bataille, dem Verschwendungstheoretiker und katholischen Meister des Obszönen  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Theorie ist das eine, Praxis das andere. Vor zehn Jahren sah ich in einer Berliner Diskothek, einem Ort der Praxis, einen jungen Mann etwas abseits am Tisch sitzen. Er las Georges Bataille, „Das Blau des Himmels“, eine existentialistische Amour-fou-Geschichte im Barcelona des Spanischen Bürgerkriegs mit ähnlichem Identifikationspotential wie etwa Walter Serners „Tigerin“ oder Henry Millers „Stille Tage in Clichy“.

Die Lektüre des jungen Mannes, vermutlich Philosophiestudent, deutete auf ein gewisses Interesse an Selbstverlust und wilden Ausschweifungen, war aber gleichzeitig Bankrotterklärung. Er trank da nur still sein Bier und schützte sich lesend vor der Teilnahme an der exzessiven Wirklichkeit, die möglicherweise ein paar Meter weiter auf der Tanzfläche tobte.

Mit Georges Bataille, dem neben Artaud wahrscheinlich pathetischsten Propagandisten von Überschreitung und Vermischung, verstärkte er seine Grenzen. Alles schien Sinnbild zu sein für das Ungeschick derer, die mit emphatischer Philosophie nach dem authentischen Leben suchten, und erinnerte an die Soldaten, die mit Rilkes „Cornet“ im Tornister in den Ersten Weltkrieg zogen. Soldaten, die sich mit Bataille fürs Töten und Getötetwerden stimulieren, sind eher unwahrscheinlich. Zu sehr beharrt der Verschwendungstheoretiker und Bibliothekar auf seiner „uneigentlichen“ (Heidegger), also normalneurotischen Angst, zieht dem soldatisch heideggerischen Entschlossenheitspriapismus die weibische „Ejakulation“ vor und nimmt Partei für die verfemten Dinge: „Ausscheidung, Verlust, Spiel, Revolte, Lachen, Glück; asoziale, asignifikante, paragrammatische Kräfte bzw. Prozesse, Exzeß, Abschied vom Diskursiven, Delirium, das Lächerliche, Unnütze, Niedrige, Abstoßende, Perverse, Obszöne; Verrückte, Revolutionäre, Verbrecher, Wahnsinnige.“ Ein antichristlicher Gott ist auch dabei als Kampfgenosse auf dem Weg in die „sozialistisch-orgiastische Gesellschaft“.

1929 schreibt er in der Zeitschrift Documents, die er mit Carl Einstein 1928 gegründet hatte, einen Aufsatz über den „großen Zeh“, das „menschlichste Körperteil“. Erniedrigt verkümmert er als Teil eines ehedem wohlorganisierten Greifwerkzeugs und steht noch im direkten Kontakt zum verachteten Da-Unten. Leichenblaß sieht er aus, scheint aber auch keck aufzutrumpfen. In einem wenig erforschten Gebiet von Isernia hätte es im 18. Jahrhundert auch Bauern gegeben, die „den großen Zeh“ (d.h. den Phallus) des heiligen Cosimo in feststehenden Riten verehrten. Als „Zehen- und Kotphilosoph“ wurde der surrealistische Dissident Bataille von André Breton beschimpft. Viel schicker ist es, den wahllosen Schuß in die Menge als surrealistische Tat zu preisen.

Mit den Klassikern der schwarzen Romantik (Sade, Lautréamont usw.) insistierte Bataille in seinem umfangreichen Werk auf dem Zusammenhang von Erotik, Gewalt und Tod. Die Vorstellung einer „natürlichen“ Sexualität ohne Scham noch Angst hielt der katholisch Verseuchte für absurd. Die Erotik sei „eine wahnsinnige Welt“; ihre „ätherischen Formen“ bildeten „nur eine dünne Schicht über infernalischen Abgründen“. SM- und Privatfernsehkitsch, denkt man. Und doch, irgendwie, denkt man manchmal.

Dem Sexmassenmörder Gilles de Rais widmete Bataille Ende der 50er eine umfangreiche Studie. In den „Tränen des Eros“ findet sich auch das obszöne Bild eines Gefolterten. In dessen Mimik entdeckte der Theoretiker der Verschwendung eine unerträgliche Ambivalenz: einerseits der furchtbarste Ausdruck des Schmerzes, andererseits auch entrückte Wollust. Skandalös, das Bild nur zu betrachten. Obszön auch, als Leser den Körper des Gefolterten zu verdecken und auf das Gesicht zu schauen. Und dann zu schreiben, daß der Ausdruck des äußersten Schmerzes hier tatsächlich dem der entrückten Lust ähnelt.

Ähnlich wurden, in polemisch- antiklerikaler Absicht, klassische Darstellungen des Gesichts von Jesus am Kreuz mit den Gesichtern von Pornodarstellerinnen verglichen. Das funktionierte, und auch progressive Christen hatten nichts dagegen. Weil der „provokante“ Vergleich die antiklerikalen Reflexe der meisten Linken bediente, also goutierbar war, und das eigentlich Skandalöse unausgesprochen blieb: daß es der Gesichtsausdruck eines Gefolterten war, der auch Lust bedeuten sollte; eine Lust, deren Ambivalenz sich auch in den Texten christlicher Mystiker findet. Wenn die heilige Therese etwa von ihrer Vereinigung mit Jesus spricht, der ihr mit einer „langen Lanze aus Gold“ mit einer „Spitze wie aus Feuer“ erschienen war: „Mir schien es, als stieße er sie wiederholt in mein Herz und durchdringe es bis in meine Eingeweide! Als er die Lanze herauszog, war mir, als zöge er auch diese heraus und ließe mich ganz im Feuer der großen Gottesliebe.“

Stets hysterisch, wandte sich Bataille mit Nietzsche gegen das institutionalisierte Christentum, das dem Gott das Reine, den Menschen das Unreine zuwies und dem Heiligen seine ursprüngliche Ambivalenz (Gut und Böse) nahm, eine Ambivalenz, die dem unmittelbar einleuchtet, der sich als Kind vor dem Vertreter Gottes auf Erden, dem Weihnachtsmann, immer voller Angst unter den Wohnzimmertisch flüchtete.

Ursprünglich hätte die Gesellschaft gerade das ihr Fremde angebetet, das als Unbeherrschbares sie in ihrem Bestand auch bedrohte. Das Sakrale sei die souveräne Gewalt gewesen, die die Ordnung der Gesellschaft zugleich setzte und – an Festtagen – aufhob.

Bataille schwärmt von verschwenderischen Opferfesten, an denen das Totemtier verspeist oder angstlustig-orgiastisch die Zerstückelung des Gottes (Dionysos) gefeiert wurde. Feste, die „das sich unaufhörlich stellende Problem – nämlich die Unmöglichkeit, ein menschliches Wesen zu sein, ohne ein Ding zu sein, und den Grenzen der Dingwelt zu entfliehen, ohne in den animalischen Schlaf zurückzufallen“ für begrenzte Zeit ein wenig lösten. Projektion wird auch dabeigewesen sein.

An der archaischen Gesellschaft gefällt Bataille vor allem, daß sie „die Produktion den unproduktiven Zerstörungen untergeordnet“ und ihre Reichtümer nicht geizig akkumuliert, sondern souverän, generös, zuweilen ruinös verschwendet hätte. Außerdem: tausend hysterische Haßtiraden gegen die berechnende Produktion, die die Gegenwart an die Zukunft verrät, gegen alle Formen von Zweckrationalität; Verachtung für die Tätigkeiten, die der Dauer dienen. Statt dessen Verschwendung: Luxus, Geschenke, Trauerzeremonien, Kulte, Prachtbauten, Spiele, Feste, Theater, Künste, die perverse Sexualität usw. Souverän sei der Mensch erst, wenn er sich verausgabe. Durchaus einleuchtend: nicht nur weil das größte Medienereignis der Neuzeit eine Totenfeier war.

In den dreißiger Jahren engagiert sich Bataille recht enthusiastisch in einigen linksradikalen Gruppen und antifaschistischen Kampfverbänden; kurzzeitig erwägt er auch, den Faschismus mit einem „Über-Faschismus“ zu bekämpfen. Enttäuscht wendet er sich 1936 ab von der Politik und träumt ein wenig von einer Rearchaisierung der Gesellschaft. 1936 gründet er zusammen mit dem Maler André Masson die Zeitschrift Acéphale. Programmatisches Ziel ist die „Transzendierung der unmittelbaren Wirklichkeit, der Vernunft, der Arbeit, der Utilität, der Zerebralität, der Notwendigkeit, der individuellen – weil knechtischen – Identität, des wissenschaftsgläubigen Fortschrittsdenkens, in der Ekstase, im Spiel, im Lachen, in der ekstatischen Liebe“.

Auch Walter Benjamin besuchte zufällig die Acéphale-Zusammenkünfte. „Taktvoll wollte er uns von der ,abschüssigen Bahn‘ abhalten; trotz des Anscheins einer irreduziblen Inkompatibilität liefen wir Gefahr, einem schlichten und einfachen ,präfaschisierenden Ästhetizismus‘ beizustehen“, berichtet der Dichter Pierre Klossowski („Gesetze der Gastfreundschaft“).

Vollends entsetzt wäre Benjamin wohl gewesen, wenn er gewußt hätte, daß Bataille auch die – nicht mit der Zeitschrift zu verwechselnde – nietzscheanische Geheimgesellschaft „Acéphale“ gegründet hatte; eine religiöse Gemeinschaft mit Kult und Mythos, nur eben ohne Gott. Man predigte Askese im Wechsel mit dem dringend empfohlenen Exzeß und gelobte, Antisemiten niemals die Hand zu geben. Zum höchsten Ziel wird die tragische Existenz erkoren und nicht die Tat, jene „servile Version des Willens zur Macht“, und auch nicht die „Selbstverwirklichung“. Als oberste Gebieterin, die dem Leben einen trunkenen Sinn gebe, wird „Madame la mort“ anerkannt. Leben will man auf dem „Siedepunkt“, in „Todeshöhe“.

Die wenigen Berichte über die geheimen Treffen der Gruppe wirken reichlich durchgedreht. Allmonatlich traf man sich bei Neumond in einem einsamen Wäldchen und vollzog schweigend komische Riten. Irgendwann war Bataille von der Notwendigkeit eines Menschenopfers überzeugt und auch bereit, dies Opfer zu sein. Das wollten die anderen dann doch nicht. So opferte man doch nur ein Tier. Und schämt sich ein bißchen, wenn man zurückdenkt.

Eine junge Philosophiestudentin erzählt, neulich hätte ihr schwuler Freund ihr in der U-Bahn laut aus dem „Obszönen Werk“ von Bataille vorgelesen. „Stellen“ eben: „Simone ohrfeigte das Priesteraas. Dabei bekam das Aas wieder einen steifen Schwanz. Es wurde ausgezogen; Simone, die sich hingehockt hatte, pißte wie eine Hündin auf die am Boden liegenden Kleider. Dann rieb sie den Schwanz des Priesters und nahm ihn in den Mund. Ich schob Simone meinen Schwanz in den Hintern.“ Lustig ist es in der U-Bahn.

Seltsam, daß Musik kaum eine Rolle spielte im Werk dessen, dem Marc Almond Anfang der achtziger Jahre eine sehr schöne, sehr depressive Platte widmen sollte und der an einer dunklen Stelle sagt: „Ich sehe die Welt durch das Fenster meines Todes, deshalb kann ich sie nicht mit dem Stuhl verwechseln, auf dem ich sitze.“

Zum Weiterlesen: Bernd Mattheus: „Georges Bataille. Eine Thanatographie“. Der dritte Band ist soeben erschienen bei Matthes und Seitz, München. 456 Seiten, 98DM

Georges Bataille: „Die Aufhebung der Ökonomie“. Matthes und Seitz, München, 48 DM

Georges Bataille: „Die Erotik“. Matthes und Seitz, 415 Seiten, 78DM