: Zarte Beben
■ Peter Härtling liest im KITO
Zum zweiten Mal kamen im KITO ein Schriftsteller mitsamt seinem Verleger: Ein glückliches Zusammentreffen von Kunst und ihrem institutionellen Rahmen, von Überbau und Basis, von Kulturindustrie und Kulturträger, – so und noch anders ließe sich das beschreiben, je nach Kopf und Laune. Vom Verlag Kiepenheuer & Witsch erzählt Reinhold Neven DuMont, der die Freude hat, dessen alleiniger Besitzer zu sein. Aus dem autobiographischen Roman „Schubert“las Peter Härtling. Der ist nur dessen alleiniger Autor. Damit sich das Gesamtkunstwerk Abendunterhaltung im KITO zur Perfektion rundet, wurden Schuberts Moments Musicaux auf dem Flügel gespielt. Eine Veranstaltung, fast so formbewußt durchkomponiert wie Härtlings Romane, die sich gerne einer musikalischen Struktur, zum Beispiel derjenigen der Suite, entlangarbeiten: Das Lebenskudellmuddel als Musikstück in mehreren Sätzen, heiter, düster, mal allegretto, mal largo.
Härtling, kriegsgeschädigt durch den Kriegsgefangenentod des Vaters und dem Selbstmord der Mutter, leistete – pars pro toto – deutsche Erinnerungsarbeit, nicht ohne Zerrissenheit und Skepsis gegenüber dem flüchtigen Gedächtnis. In seiner genialen Romanrecherche „Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung“übersetzt er seine Skepsis gegenüber den Nachwehen der Vergangenheit im eigenen Kopf virtuos in literarische Struktur. Geschehenes wird eingekreist, , gejagt, aber nie ganz erwischt. So berichten verschiedene Personen, wie sie ein Ereignis gesehen haben.
Nun schon einmal fasziniert von der Schlüpfrigkeit des Vergangenen, wühlte sich Härtling auch und immer wieder in fremde Biographien ein, Hölderlin, Lenau, Schumann und eben Schubert. Skrupel vor dem Faktor Wahrheit scheinen zu verschwinden. Die Sehnsucht nach verschwunden Welten mit ihren verloren gegangenen Gefühlen und überlebten Umgangsformen beginnt zu dominieren. Im KITO las Härtling nicht nur von einer pubertären Liebe Schuberts, dem Internatsleben, der Mutter, er erzählt auch, was ihn zu seinen Roman inspirierte. Man besuchte Schuberts Elternhaus „mit einem schönen, kleinen Innenhöfchen“. Man „saß allein an einem stillen Herbstabend im Höfchen“und stellte sich „die Geräusche vor, die einst durch das Haus pulsierten.“Höfchen und Herbstabend: im grausamen, von Syphilis verwüsteten Leben Schuberts scheint auch das Biedermeieridyll zu locken. Es erlaubt dem Autor einen Kult gesteigerter Sensibilität. Mutters Hände „wuchsen wie eine Mütze um seinen Kopf.“Welcher kleine Junge empfindet so lyrisch. Es erlaubt auch verlorene Unschuld. Härtling erdichtet einen Schubertjungenlehrer, dem „es zu schaffen macht, daß er ihr“– seiner Schülerin – „so nahe ist, daß er ihre Arme berühren könnte.“In keinem Gegenwartsroman dürfte solch zartes Beben stattfinden. Bis in die Wortwahl hinein sickert die Lust an am seelischen Altertum. „Hochfahrend“wird da eine junge Frau genannt, ein Attribut, das nur in einer präfeministischen Epoche Sinn gibt; Jugendliche vergnügen sich beim „Beerennaschen“; und Härtlings Stimme ist ein stiller, ruhiger Fluß, warm, sentimental. .Sehr problematisch, unendlich sympathisch.
Reinhold Neven DuMont erzählte von Bestsellern, die im letzten Moment vor der finanziellen Katastrophe retteten, von den immer seltener werdenen Texten, die einen Kurzzeit Erfolg längerfristig überleben (im Kiepenheuer & Witsch Verlag ist das Remarques „Im Westen nichts Neues“und Wolfgang Leonhards „Die Revolte entläßt ihre Kinder“). Und er berichtet von einer raffinierten Art, neue Autoren aufzuspüren. Lektor Dieter Wellershof bat ins Blaue hinein um Erzählungen zum Thema „Ein Tag in der Stadt“und entdeckte so Rolf Dieter Brinkmann und Günter Herburger. Kein schlechter Wurf. bk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen