: Der Violinist von Auschwitz
■ Als schämte sich die Musik ihres Glanzes: „Through Roses“ von Marc Neikrug im Thalia-Theater
Ein Musiker sitzt auf einer Orchesterprobe. Die alltäglichste Situation der Welt. Da tippt der Sitznachbar den Musiker an, zeigt auf den Cellisten und sagt: „Dieser Mann mußte in Auschwitz Bachs Solosuiten spielen, während die Menschen zur Gaskammer gingen.“ Kann man sich vorstellen, wie schlagartig sich die Situation für den Musiker änderte? Und kann man sich seinen Blick vorstellen, wie er den Cellisten ansah, zugleich fasziniert wie diskret, mit einer Mischung aus Neugierde und Scheu dieser Geschichte gegenüber, die da überlebensgroß über dem armen Cellisten hing?
Diese Episode hat sich tatsächlich ereignet. Marc Neikrug war der Musiker. Ihn ließ die Geschichte lange nicht los. Und so hat er das Stück Through Roses geschrieben, ein Stück für ein kleines Orchester, das eine Musik spielt, in der an beinahe die gesamte abendländische Musiktradition angespielt wird, unter anderem auch an Bach; und ein Stück über einen Geiger, der Auschwitz überlebte, weil er spielte, spielen mußte, spielen durfte, während die Menschen zur Gaskammer gingen.
Dieses Stück ist jetzt für nur wenige Aufführungen am Thalia-Theater zu sehen, in der szenischen Einrichtung von Jürgen Flimm, der musikalischen Leitung von Marc Neikrug, mit dem berühmten Violinisten Pinchas Zukerman im Orchester und (nachdem Klaus Maria Brandauer kurzfristig absagte) Christoph Bantzer als Violinisten von Auschwitz. Im Bühnenhintergrund spielt das Orchester. Im Vordergrund wird der Violinist von seinen Erinnerungen eingeholt. Dazwischen verlaufen Bahngleise, die Bahngleise, über die die Menschen bis zur Rampe, bis zum KZ transportiert worden sind.
Neikrug hat sich der Geschichte so genähert, wie er auf den Cellisten geblickt haben mag – mit diskreter Neugier. Through Roses prunkt nicht mit seinen Hintergründen, und die Aufführung will dem gar nicht erst mit Ideen nachhelfen. Aber nachdem man zuerst dachte, Christoph Bantzer einiges nachsehen zu müssen, weil er die Rolle zu kurzfristig übernahm, erwischt er einen schließlich doch und nimmt einen mit in das Grauen, das undarstellbar und stumm hinter dieser Figur steht.
Und die Hintergründe sind in der Musik zu hören. Die Musik, die abendländische zumal, sie bedeutete einmal Tröstung, Emotionen, Glück. Mehr noch: Sie war der Inbegriff der Humanität. Bei Neikrug hat die Musik Auschwitz gesehen, was etwas pathetisch formuliert sein mag, man der Komposition stellenweise aber durchaus anzuhören glaubt. Wie Gespenster tauchen Themen auf, die der Violinist tatsächlich gespielt haben könnte – Beethoven, Haydn, Mozart, Berg. Und es ist so, als schämten sie sich ihres alten Glanzes.
Die Musik läuft weiter. Sie hat – bei Neikrug durchaus versehrt, wenngleich nicht pathetisch auf ihre Verwundungen zeigend – Auschwitz überlebt. Und auch der Musiker hat Auschwitz überlebt. Auch versehrt. Zwischen ihm und seiner Musik verlaufen jetzt die Eisenbahnschienen.
Dirk Knipphals
Noch Sonntag, 21. Mai, 21 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen