Ein langer Weg durch die Zeilen

■ Reimer Eilers hat den Gedichtband „Der Tag an dem das Meer gestohlen wurde“ geschrieben

Was ist schon die Surrea- / listik der Änste gegen die / maßlos zufälligen kleinen / Tricks eines Gedichts konnte Durs Grünbein, der in diesem Jahr, 33jährig, den Büchner-Preis erhalten wird, in seinem Debütband Grauzone morgens fragen, denn: Schon 1988 gab es kaum einen deutschsprachigen Lyriker, der trick- und erfindungsreicher gewesen wäre auf dem Gebiet der Herstellung jener kleinen, geräuschlos auf dem Papier ablaufenden Maschine mit Namen Gedicht. Läßt sich betreffende Frage in lyrischer Form doch überhaupt nur stellen, versteht der Fragende sein Gedicht selbst als verführerisches Produkt: Seine Frage ist bereits ein solcher „maßlos zufälliger Trick“.

Man kann nur mit Grünbein einer Meinung sein oder nicht; hilfreich für das ewige Kreuz, ein Gedicht zu verstehen, ist sein Ansatz allemal. Frappierend allerdings die anscheinende Notwendigkeit des Ausspruchs 1988, immerhin gut 30 Jahre, nachdem Benn ein für allemal klarstellen wollte: Ein Gedicht wird nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten gemacht; frappierend seine Sprengkraft auch heute, wiederum sieben Jahre später. Ist es demnach falsch, von literarischer Fortentwicklung auszugehen?

Der Tag an dem das Meer gestohlen wurde, der erste Gedichtband des Hamburger VS-Vorsitzenden und Mitglieds der Literaturgruppe Peng Reimer Eilers, jüngst in dem kleinen Münchner Verlag Stora erschienen, legt diese Frage tatsächlich nahe. Mehr noch: Hauptthema des Bands ist sie selbst, die Allesverschlingende, die Zeit.

Doch wie so häufig, leider, auch Eilers fragt seine Leser und sich nicht sehr lange, welcher verführerische, einlullende, welcher unsere Wahrnehmung einbalsamierende Mechanismus ist eigentlich am Werk und gestaltet uns unwirklich, was uns doch eben noch handgreiflich und wichtig schien. Immerhin: Eilers gelingt es immer dann, der Schwerkraft (auch der Schwerkraft des Gedichts) ein Schnippchen zu schlagen, wenn er aufhört zu salbadern und statt dessen mit Verve, wenn es sein muß, auch rotzig, von dem spricht, was ihm hörbar ans Herz gewachsen ist. Es ist kein Zufall, daß sein kräftiges und gelungenstes Gedicht dem Band den Namen gibt: Der Tag an dem das Meer gestohlen wurde / War blau / Niemand trat auf // . . . Meer der Diebe / Auf Wangerooge starb die Sprache / Zu Anfang des Jahrhunderts in den Dünen // Lagen verstreut / Die Reisenden und auch du wirst die See / Nie mehr grün nennen //

Wo es Eilers, der 1948 auf Helgoland geboren wurde, gelingt, die durch die See geprägte Topographie und Terminologie plausibel zu machen, geht es, ganz einfach, auch formal, um Zeit. Die Distanz zum Erlebten ist hier groß genug, um nicht auf einer allein oberflächlich wehmütigen Ebene herumzuhantieren mit Er- und Verlebtem. Im ersten Kapitel des Bands wird hinterfragt, ob und wo und wie Erleben ist, was mich kurz erleben läßt und kurz darauf schon mein Erleben nacherlebt wissen will. Hier wird sprachlich bewußt, daß ich eingespannt bin, nicht allein in die Zeit, sondern in die Sprache einer Zeit, daß ich ohne diese Bewußtwerdung gefressen werde von beiden bei lebendigem Leib: Die Schiffe bleiben aus. Stille Atmen / Stürme treiben Möven in den Hafen. Und wieder / Stille. Mit dem Wetter wächst die Geduld irgendwann / Kommt das Eis oder / Auch nicht . . .

Die übrigen 50 kürzeren und längeren Arbeiten des Bands wirken dagegen formal wie inhaltlich beinah ohne Ausnahme, als wären sie vor 10, 20 Jahren entstanden, veröffentlicht und – vergessen. Die Zeit, das Thema der Gedichte, wendet sich nun gegen sie selbst: Berlin, achtzehnter März / Der Pershing verdanken wir / Auch dieses Friedensfest / Im Palais am Funkturm // Rock aus Deutschland NDW / . . . Nirwana // Auf dem Weg ins Nichts / Nichts im Weg //

Als man noch wußte, gegen wen man war und zu sein hatte: Das waren, scheint Eilers zu glauben und, schlimmer, suggerieren zu wollen, das waren, politisch wie literarisch, noch Zeiten. Allein ein Autor, dem es mehr um ein weiches Beleuchten des Gestern geht als darum, den verführerischen Mechanismus Sentimentalität freizulegen, wird im Frühjahr 1995 gewitzt wie gewagt wettern wollen gegen die längst im Zucker zerronnenen Zombies der Konkreten Poesie: Bedeutungsschwer / gebrochene Zeilen: / Die Poetik des Wellensittichs. Körner / pickerei. / Impressionen, Blicke. // O bedeutend konkret sein! Am besten / synästhetisch . . . Jener so entlarvten höheren Weltsicht in Klammern sagt Eilers gnadenlos den Kampf an und – steigt in die rostrote Rüstung Baujahr 68: tagespolitisch beschlagen, geht es ins Feld gegen so böse Phänomene wie Autobahn, Wessi-Ossi-Konflikt, Literaturtelefon und, allen Ernstes, etwas wie das TeVau. Es ist ein langer Weg durch die Zeilen, manche inhaltliche, später obendrein gereimte Peinlichkeit gilt es für den Leser zu bestehen: Keine Brüste wie sie wippen / Helfen dem was sich noch reimt / Schwarzer Strich das sind die Lippen / Und die Liebe bleibt entschleimt //

Ein Band mit Gedichten in durch eindringliche Sprache eindringlichen Bildern über einen Aufbruch, eine unverwechselbare norddeutsche Kindheit, eine Landschaft – das wäre es gewesen. So bleibt das einst grüne ein farbloses Meer und die Erkenntnis: Die Zeit war ein roter Toyota, de Nada, wie es in Reimer Eilers' Hommage an Grabbe heißt, einen anderen verspäteten Dichter.

Mirko Bonné

Reimer Eilers: Der Tag an dem das Meer gestohlen wurde, Stora, 92. S., 24,– Mark