: Ein beschrankter Bahnübergang Von Susanne Fischer
Am Wochenende war Welt-Paralleluniversumstag. Am Welt-Nichtrauchertag raucht man möglichst unauffällig, am Welt-Spartag steckt man einen Groschen in die Hosentasche, den man erst ein Jahr später wiederfindet, so daß man sich selbst ein zinsloses Guthaben über zehn deutsche Pfennige auszahlen kann, das man allerdings unbedingt sofort wieder in die andere Hosentasche stecken muß, weil ja dann schon wieder Weltspartag ist, so daß als einziger Gewinn ein sauberes Kleinsparergewissen nach Hause getragen werden kann. Am Welt-Bärenschutztag schützt man die Bären. Man raucht zum Beispiel nicht auffällig in ihrer Gegenwart und wirft auch nicht mit Groschen nach ihnen.
Am Welt-Paralleluniversumstag hingegen stellt man sich nachts auf einen deutschen Bahnhof und wartet auf die rollende Schrankwand. Die kommt ganz pünktlich neben unseren vor Erregung roten Ohren zum Halt und bietet einem Einlaß. Listenschreiber haken unseren Zustieg ins Paralleluniversum ab und stopfen uns in einen Schrank. Dort sollen wir schlafen, bis wir woanders wieder aufwachen. „Versprochen ist versprochen“, ruft der Listenschreiber, ehe er alle Klappen realitätsfest dichtzurrt.
Sobald wir im Schrank hocken, wird es finster, und ein grauenhaftes Rumpeln, Rattern, Sausen und Zischen setzt ein. Schubladen fliegen durch die Luft, und Betrunkene kollern außen an den Schranktüren vorbei. Es ist nicht einfach, in das parallele Universum zu gelangen; wir werden dabei kräftig durchgeschüttelt. Kaum hundert Jahre später öffnet unser Wärter den Verschlag und begrüßt uns freundlich in der Schweiz. Das sagt er aber nur so, weil er „Paralleluniversum“ nicht aussprechen kann.
Noch im Dunkeln wirft er uns aus dem Fahrmöbel, aber wir hatten es ja so gewollt. Wir irren durch ein weitläufiges, maßstabsgetreues Modell der Hölle mit allerhand Treppen, Rampen und Baustellennachbildungen, weil wir unsere Reise fortsetzen wollen in das Innere des Paralleluniversums. „In der Schweiz sind keine zwei Orte weiter als eine Stunde voneinander entfernt“, tröstet uns der Bewohner des großen Bergstiefels, der hier das Sagen hat. Soweit es den Gang zur Bahnhofstoilette betrifft, dürfen wir ihn bereits einen alpengroßen Lügner nennen, woraufhin er beginnt, in Zungen zu sprechen: „Ciao! A bientôt!“ ruft er lustig und dreht uns den Rücken zu.
Unsere Expedition in die Hauptstadt Paralleliens müssen wir nun ohne seine Hilfe bewerkstelligen. Auch diese Hauptstadt führt als Wahrzeichen den Bären, und mehr noch: Echte lebendige Bären hocken deshalb in einem Bärengraben, wo sie sich von rücksichtslosen Ausflüglern mit Obst bewerfen lassen müssen. Zum Trost dürfen sie aber auf einem abgestorbenen Baum herumturnen.
„Die Klettertanne ermöglicht ihnen den Blick auf die Stadt Bern“, informiert uns eine eigens angebrachte Tafel, und wir fragen uns, ob die Bären in Parallelien wohl lesen können und wie ihnen die Aussicht gefällt. Unauffällig zünden wir uns Zigaretten an und bewerfen die Tiere mit kleinen Münzen. „Das Kleingeld ermöglicht ihnen eine Tramfahrt in die Stadt Bern“, sprechen wir dazu. Wir wollen niemals wieder heimgeschrankt werden.
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