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Vorwärts und nicht verbessern!

■ Das Lehrstück und Oratorium „Die Maßnahme“ von Brecht und Eisler darf im Berliner Ensemble wieder gezeigt werden. Und siehe: Es gibt noch offene Fragen

Nach fast 67 Jahren haben Barbara Brecht-Schall und das abtrünnige Brecht-Familientheater „Die Maßnahme“ am letzten Samstag aus ihrer heimlichen Wirksamkeit befreit. Und siehe da: Die Bourgeoisie, der es einst an den Kragen gehen sollte, spendet Beifall.

Ein Lehrstück. 70 beachtliche Minuten kurz. Der Platz des „jungen Genossen“ auf der Bühne des Berliner Ensembles bleibt leer. Vier aus China zurückgekehrte Parteiagitatoren demonstrieren vor dem Parteigericht, warum sie ihren Genossen getötet haben. Vier junge BE-Schauspieler, vier alte. Die Jungen müssen zuletzt von Zetteln ablesen, zu welcher „Maßnahme“ sie als Parteiagitatoren gegriffen haben. Die Alten geben mal bürokratisch, mal zweifelnd das Alter ego der Jungen.

Diskursive Bühnenkunst in Schwarzweiß. Hinter den Textprojektionen auf dem Gazevorhang: der Konzertchor der Staatsoper als Parteigericht. Eine vielköpfige Hydra in Talaren, oratorisch kräftig, die Lehren rhythmisch skandierend; und das Kammerensemble Neue Musik (Leitung: Roland Kluttig) mit Schlagwerk und Blech, mal schmissig im Eislerschen Revolutionspathos, mal Ausbeuters Lieder jazzig-parodistisch begleitend. Für die Lieder („Ich weiß nicht, was ein Mensch ist / ich kenne nur seinen Preis“) tritt mit Brillantinehaar, Frack und Mundtüchlein direkt aus dem Jahr 1930 Götz Schulte als Tenor auf. Komisch aufgerissen das stummfilmdick geschminkte Auge.

Obwohl Brechts und Eislers roter Stein der Weisen inzwischen gründlich verloren gegangen ist, leistet sich Klaus Emmerichs Inszenierung nur kleine Ironien. Axel Werner stottert das „Ändere die Welt: sie braucht es!“ widerstrebend zusammen. Christine Gloger verspricht sich beim Lenin- Zitat erhellend: „Klug ist, der seine Fehler schnell zu vergesse... verbessern versteht.“

Wer „Die Maßnahme“ von Bertolt Brecht und Hanns Eisler einfach als „kommunistisches Propagandastück“ abtut, drückt sich um ihren Kern. Der lautet: „Ändere die Welt: sie braucht es!“ Was ist falsch daran? Wer denkt nicht manchmal satt und mit schlechtem Gewissen an Massenmord und Hunger, Ruanda und Bosnien?

Doch wie ändert „man“ die Welt? Wohl kaum wie Mutter Teresa mittels Barmherzigkeit. Das lindert bestenfalls die Not einzelner (wichtig genug), schafft dem Helfenden einen guten Leumund (angenehm), aber ändert nichts am „Urgrund des Elends“. Ein Merksatz von Reportern in „Krisengebieten“ heißt: Versuche nicht, einzelnen zu helfen, du machst die Sache nur schlimmer! Um die Not abzuschaffen oder wenigstens gegen sie anzugehen, bedarf es der Organisation. Wüßte man es nicht besser, man könnte sagen, auch die UNO versuche die Welt zu ändern. Selbstverständlich mit organisierten Maßnahmen, gelegentlich mit Gewalt. Nicht durch Mitleid.

Der „junge Genosse“ in der „Maßnahme“ hat Mitleid mit der Not der vielen. Das macht ihn ungeduldig und gefährdet die Organisation, die an der Abschaffung der Not arbeitet. Da der „junge Genosse“ sein Mitleid nicht bis zum nahen Beginn der Revolution aufschieben will, „muß er verschwinden“. Illegal in fremdem Land, umstellt von den Häschern, bleiben den vier „Agitatoren“ fünf Minuten, um eine Lösung zu finden. Sie entscheiden, den Barmherzigen zu töten. Ohne ihn können sie unerkannt die feindlichen Linien durchqueren.

Eisler und Brecht haben die Voraussetzungen ihrer „Maßnahme“ konstruiert. Wo sie glaubten, regieren heute Zweifel. Welche Organisation kennt „den richtigen Weg“? Wer kann ein Opfer rechtfertigen, um Tausende zu retten? Aber die Zuschauer der zweiten Vorstellung im Berliner Ensemble wissen, als das Licht angeht und sie zum Nachdenken über eine „bessere Möglichkeit“, als den „jungen Genossen“ zu töten, aufgefordet werden, auch keine andere Lösung. Oder wollen sie nicht verraten. Äußern keine Empörung über die Zumutung oder den schäbigen Theatertrick, der sie als unfreiwillige Teilnehmer des Lehrstücks (das immer die Mitspieler belehrt) zu Mitschuldigen am Tod des Jungen macht.

Also wären alle einverstanden? Nur politische Organisation kann die Not abschaffen, die deshalb nicht aus Mitleid gefährdet werden darf? Wohl kaum. Dennoch ist dies der Kern der Frage: Wie ändere ich die Welt? Doch weil die kunstfertige Frageform des Berliner Ensembles nur noch den ästhetischen Nerv erreicht, ist zu befürchten, daß wieder alles bleibt, wie es war. Nikolaus Merck

„Die Maßnahme“ von Brecht/Eisler, Regie: Klaus Emmerich

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