Vergeßlicher Jospin

■ Frankreichs Premier verabschiedet sich von seinen Wahlversprechen

Paris (taz) – Stichtag ist der 10.Oktober: Dann werden französische Regierung und die Sozialpartner über die versprochene Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Verkürzung der Arbeitszeit beraten, kündigte Premierminister Lionel Jospin am Montag in Paris an. Zugleich nahm er dem seit der Parlamentswahl Ende Mai erwarteten Termin die Schärfe. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, sagte er, sei „antiwirtschaftlich“ und „nicht unser Slogan“.

Was der Premierminister da gestern in einem Interview mit der Tageszeitung Le Monde erklärte, steht im Gegensatz zum Wahlprogramm der Sozialisten, in dem es unter anderem hieß: „Wir schlagen vor, die gesetzliche Arbeitszeit ohne Lohnkürzungen von 39 auf 35 Stunden zu reduzieren.“ Die gemeinsame Wahlplattform von Kommunisten und Sozialisten hatte ebenfalls Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich propagiert. Dreieinhalb Monate danach ist jenes Wahlkampfprinzip einem starken Pragmatismus gewichen.

In dem Interview warf Jospin neben seinen Arbeitsmarktprojekten auch zahlreiche andere Versprechungen über Bord. So steht er heute Privatisierungen von staatlichen Unternehmen keineswegs mehr ablehnend gegenüber, will dies jedoch situativ entscheiden. Als beispielhafte Sektoren nennt er die Rüstungs- und Elektronikbranche, wo Privatisierungen „unvermeidlich“ seien, um „Allianzen zu schmieden“ und „der amerikanischen Hegemonie“ zu widerstehen.

Wirtschaftlich unterscheidet sich das Programm des Sozialisten Lionel Jospin nur unwesentlich von dem seines unbeliebten gaullistischen Vorgängers Alain Juppé. Und während bei den linken Parteien der Regierungskoalition erste kritische Stimmen laut werden, äußerten sich gestern vereinzelte Sprecher der konservativen Opposition angetan von Jospins Vorhaben. Dorothea Hahn

Kommentar Seite 10