: Der süße Reiz bitteren Reises
■ taz Architektur Sommer: HamburgerInnen beschreiben ihr meistgeliebtes oder meistgehaßtes Gebäude der Stadt. Teil VII: Hajo Schiff über das busige Haus in der Bellevue Nr. 20
Ein Architekt mag ein Haus auf seine Baustruktur hin ansehen, uns andere reizen alte und neue Steine eher als Verortung von Geschichten. Nicht von großen Ereignissen, abgerissenen Domkirchen oder schaurig-schön geziegelten Schulgebäuden möchte ich berichten, sondern von einer doppelt pubertären Angelegenheit, die die eigene Kindheit mit der der Republik verbindet.
Als Kind in den heute längst verstaatlichten, damals privaten Vorgärten an der Alster spielend, hörte ich in den sechziger Jahren aus den touristischen Dampfern mit schnarrender Mikrophonstimme den Hinweis auf das Haus Bellevue 20: Aufgrund seiner besonderen Balkone hieße es das „Bitterer-Reis-Haus“. Diese durchaus merkwürdige Bezeichnung für ein eher schlichtes, um 1950 wiederaufgebautes Mehrfamilienhaus prägte sich mir nicht nur durch seine ständige Wiederholung ein.
Die Touristen quittierten den Hinweis meist mit gedämpften Lachen. Der Gedanke verfestigte sich, daß der geheimnisvolle Begriff irgendwas mit Erotik zu tun hatte. Vor allem, weil meine Vorstellung von „bitterem Reiz“sich mit den problemgeladenen Knabengedanken an das andere, fremde Geschlecht nur allzuleicht verbinden ließ.
Irgendwann erklärte mir jemand, Bitterer Reis sei ein Film mit dieser tollen Silvana Mangano mit dem „außergewöhnlichen Körperbau“. Allein, auch das reduzierte nicht die seltsame Aura um das Haus, denn es gab keine Möglichkeit, diesen Film zu sehen, und selbst wenn, vermutlich hätte ich „sowas“nicht sehen dürfen. In Giuseppe De Santis neorealistischem Film Riso Amaro von 1949 über die Ausbeutung der reisanbauenden Wanderarbeiter in der Po-Ebene beugt sich der wenig bekleidete Filmstar des öfteren weit nach vorne, was gewisse Einblicke freigibt. Daß die Balkone diese Hauses nach sovielen Jahren noch daran erinnerten, darf heute getrost als Ausdruck eines doch ziemlich kompliziert verklausulierten und verklemmten Umgangs mit allem Sexuellem eingeschätzt werden. Und wenn dann noch der Kneipenspruch vom „Holz vor der Hütte“in der Erinnerung aufsteigt...
Wer waren diese Architekten, die den muffig-augenzwinkernden Altherrenspott auf sich zogen? Das Haus wiederaufgebaut hatte das Büro Herbert Sprotte und Peter Neve. In den dreißiger Jahren waren die Architekten Mitarbeiter solch geschätzter Baumeister wie Karl Schneider oder Hans Scharoun; später, als Hamburg in Trümmern lag, bis 1947 Leiter des „Aufräumungsamtes“. Sie haben unter anderem die Messehallen an der Jungiusstraße gebaut (1952/53) und 1959-69 den Neuaufbau des Kieler Schlosses zu einem modernen Kulturzentrum durchgeführt.
1955 schrieb das Fachorgan Bauwelt über die Bauten der beiden Architekten: „Dann aber begrüßen wir die glatte Putzfront unter gläsernem Aufbau, so deutlich auch Stimmen zu uns dringen, die sich die Zeiten der Kargheit überwunden wünschen. Hier wie in so vielen schlichtesten Hausfronten spiegelt sich durchaus nicht die Tugend der Not, vielmehr die einer wohl abgewogenen Harmonie, selbst hinter dem reizenden Witz der busigen Balkone.“
Und das sind Kriterien, wie sie heute niemand mehr formuliert, weder öffentlich noch privat. Kritik und Land sind älter geworden und die später oft verfälschte, trotz mancher Verschrobenheiten oft leicht-beschwingte Architektur der Fünfziger wird vielerorts abgerissen und durch spätkapitalistisch-massiven Protz ersetzt. Jetzt ist die Kargheit wirklich überwunden und es heißt erst recht: Wir sind wieder wer.
Hajo Schiff ist Kunstjournalist
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