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Magic Thomas

Selten so gezaubert: Die Essays von Thomas Mann liegen jetzt in sechs Bänden vollständig vor – ein Werk voller Widersprüche  ■ Von Volker Weidermann

Diesen Traum vertraute Thomas Mann nur seinem Tagebuch an: „Mir träumte, ich sei in bester Freundschaft mit Heinrich zusammen und ließe ihn aus Gutmütigkeit eine ganze Anzahl Kuchen, kleine à la creme und zwei Bäcker- Tortenstücke allein aufessen, indem ich auf meinen Anteil verzichtete. Gefühl der Ratlosigkeit, wie sich denn diese Freundschaft mit dem Erscheinen der Betrachtungen vertrage. Das gehe doch nicht an und sei eine völlig unmögliche Lage. Gefühl der Erleichterung beim Erwachen, daß es ein Traum gewesen.“ Der Alptraum eines deutschen Dichters im September 1918. Thomas Mann schläft schlecht. Der Krieg geht zu Ende, und seine „Betrachtungen eines Unpolitischen“, an denen er in dieser Zeit gearbeitet hatte, drohen zu erscheinen. Drohen? Drohen.

Noch Anfang Oktober schickt er Telegramm und Eilbrief an seinen Verleger Samuel Fischer, um eine Auslieferung des Buchs in letzter Sekunde zu verhindern. Doch es war zu spät. Eine Woche vor Ende des Krieges liegen die „Betrachtungen“ in jeder deutschen Buchhandlung aus. Der denkbar ungünstigste Zeitpunkt.

In Deutschland brechen neue Zeiten an: die Republik, die Demokratie. Und Thomas Mann ist mit einem antirepublikanischen, antidemokratischen Buch auf dem Markt, überholt von der Geschichte. Der Star der jungen Republik heißt Heinrich Mann, ist sein Bruder und wird in den „Betrachtungen“ als „Zivilisationsliterat“ geschmäht. Der Vorwurf Thomas Manns gegen Heinrich: die „Entdeutschung Deutschlands“ durch Demokratisierung. Nicht ganz vier Jahre wird es dauern, bis sich Thomas Mann auf die Höhe der Zeit geschwungen haben wird und sich zu einem „Es lebe die Republik!“ durchringt.

Widersprüche – Thomas Manns essayistisches Werk ist voll davon. In der von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski getroffenen Auswahl, von der nun auch der sechste und letzte Band vorliegt, werden sie besonders deutlich. Man habe „der olympischen Selbstinszenierung und klassischen Beherrschtheit“ der von Thomas Mann selbst zusammengestellten Essaybände ein widersprüchlicheres Bild entgegensetzen wollen, so die Herausgeber der ersten kommentierten und textkritisch durchgesehenen Ausgabe der Essays Thomas Manns im Nachwort. Das ist ihnen gelungen. Und nicht nur das: Auch die Kommentierung ist sehr sorgfältig und ausführlich. Sie enthält Berichte über die Entstehung der einzelnen Essays ebenso wie Informationen über Beziehungen zu Werk- und Zeitgeschichte, über Erst- und Nachdrucke, über eventuelle spätere Umarbeitungen und eine ausgiebige Quellenforschung. Man hat sich an ein Wort Golo Manns gehalten, das er kurz vor seinem Tod an Inge Jens, die Herausgeberin der Tagebücher Thomas Manns, gerichtet hatte: „Und denken Sie immer daran: was Sie jetzt nicht festhalten, ist für immer verloren.“ Der Mainzer Germanistikprofessor Kurzke (von dem auch der mit Abstand beste Einführungsband ins Werk Thomas Manns stammt) und sein Mitarbeiter Stachorski haben fast nichts verlorengegeben.

Halt! Etwas vielleicht doch: die Entscheidung, durchweg die erste Fassung der Essays aufzunehmen, ist sicher nicht schlecht, da in aller Regel die überarbeiteten und umgearbeiteten Versionen Eingang in die offiziellen Mann-Publikationen fanden. Doch wäre es in manchen Fällen wünschenswert gewesen, die Umarbeitungen im einzelnen darzustellen, etwa bei dem Text „Goethe und Tolstoi“. Auf welche Weise der Autor hier den gleichen Grundtext in den verschiedenen politischen Phasen in zentralen Passagen variiert und teilweise völlig neu geschrieben hat, das hätte man doch ganz gerne genauer gelesen. Auch daß die beiden größten Essays, die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ und „Die Entstehung des Doktor Faustus“, aus Platzgründen nicht aufgenommen wurden, ist bedauerlich. Gerade die „Betrachtungen“ hätte man gerne von Kurzke kommentiert gesehen. Da wird man bis ins nächste Jahrtausend warten müssen, wenn die neue, finale, endgültige, große, kommentierte 58bändige Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns erscheint. Innerhalb dieser Mammutausgabe wird Hermann Kurzke der verantwortliche Herausgeber der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ sein.

Alle anderen Essays aus der Zeit des Ersten Weltkriegs sind dabei. Darunter auch die „Gedanken im Kriege“, in denen Mann, nachdem er sich beim Parademarsch eine Sehnenscheidentzündung zugezogen hatte, als wehruntauglich ausgemustert worden war, sein Volk zu den Waffen ruft: „Krieg! Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung!“ Nicht die Siege sind es, die den im bequemen Lederfauteuil sinnierenden Dichter begeistern, auch wenn diese „uns die Tränen in die Augen treiben und uns nachts vor Glück nicht schlafen lassen“. Nein, es ist „der Krieg an sich selbst, als Heimsuchung, als sittliche Not“.

Denn der deutsche Dichter Thomas Mann war im Herbst 1914 mit seiner Kunst am Ende. Die meisten seiner Helden, die er bis dahin geschaffen hatte, waren von ihrer Liebe zu den morbiden Klängen Richard Wagners sanft dahingerafft worden. Jetzt, im Spätsommer 1914, saß er am „Zauberberg“ und wußte nicht wie enden. Da kam der Krieg, und Mann war erlöst, denn der Krieg erscheint als Lösung seines Kunstproblems, als logisches Ende der Dekadenz, die immer nur zum Tode will: „...in die Verkommenheit meines ,Zauberberges‘ soll der Krieg von 1914 als Lösung hereinbrechen, das stand fest von dem Augenblick an, wo es losging“, schrieb er schon im August 1914 an seinen Verleger Fischer.

Wagner gilt ihm nun als deutscher Held, mit dessen Hilfe Frankreich niedergeworfen werden kann. Später, als geläuterter Republikaner, wird Wagner von ihm kaum noch erwähnt. In den letzten Jahren der Weimarer Republik, Thomas Mann bezeichnet sich inzwischen als Sozialist, wird er vor der Verzauberung des deutschen Volkes durch Wagner warnen, denn wo Wagner draufsteht, ist viel Hitler drin.

Der politische Autor Thomas Mann ist viel gescholten worden. Von Golo Manns Diktum des „unwissenden Magiers“ bis zu den bis zur Unerträglichkeit gesteigerten Ermahnungselegien in der 2.000- Seiten-Biographie Klaus Harpprechts, der ihn im letzten Viertel seines Buchs auf beinahe jeder Seite für auf dem linken Auge blind, politisch völlig naiv und unmündig erklärt, reichen die Herabsetzungen.

Doch gerade um dieser Widersprüche willen, die politische Positionen durchspielen, sich zur Verantwortlichkeit durchzuringen versuchen und zwischen den unterschiedlichsten Ansprüchen lavieren, sind die Essays Thomas Manns auch heute noch so lesenswert. In der Ausgabe von Kurzke und Stachorski sind sie ein echter Genuß.

„Thomas Mann. Essays“. 6 Bände. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 1993–1997. Als Taschenbücher zwischen 19,90 und 26,90 DM. Gebunden kosten die Bände zwischen 48 und 68 DM

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