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Das Liebliche und das Gewaltige

Bewegungen im Schweizer Engadin. Wer im Spätsommer dorthin reist, hat nur ein Ziel: auf den Berg hinauf. Waghalsige Aussicht auf Berge bietet der Glacier Express. Die Schweiz hat eine hohe Zugkultur und belebte Gipfel  ■ Von Irmgard Maenner

Durch das Engadin fährt eine rote Eisenbahn. Hinter ihren Panoramafenstern sitzen Fremde und sehen hinaus. Der Schöpfer dieser Landschaft muß „Faller“ heißen. Die Berge sind mit grünem Filz überzogen, in den Schluchten glänzen bewegte Wasserfolien. Harte Sitze zwingen die Fahrgäste des Glacier Express von Chur nach St. Moritz in eine aufrechte Haltung. „Die Schweiz hat eine hohe Zugkultur“, sagt die Dame, dann spricht sie über Länder, die „keine Zugkultur“ haben, hauptsächlich über Italien. Zwischen dem Wort „Zug“ und dem Wort „Kultur“ läßt sie eine winzige Pause.

Der Glacier Express erklimmt verwegene Steigungen und verschwindet im Berg, durch Spiraltunnel windet er sich ins Erdinnere hinein. Drin verliert man die Orientierung, jedes Gefühl für eine Himmelsrichtung. Kommt man wieder ans Tageslicht, muß man erst herausfinden, ob man ein Stück höher im gleichen Tal oder schon auf der anderen Seite des Bergs ist. Immer neue waghalsige Aussichten tun sich auf: klammernde Baumwurzeln, Felsstürze, Schluchten. Es geht Richtung Süden, aber wir bleiben in der Schweiz, in dieser Spielzeuglandschaft, die der liebe Gott für die Schweizer geschaffen hat wie die Schweizer die Rhätische Bahn für Touristen. Das war am Anfang unseres Jahrhunderts.

Heute kennt jeder den Winter in St. Moritz: wagemutige Lords auf rasenden Bobschlitten, im Schnee picknickende Playboys, Windhunde, Pelze, Emire und Mogule, Blondinen, die ihre Gesichter der Alpensonne entgegenstrecken, Skiunfälle.

Jetzt aber ist Spätsommer, und bis jetzt ist alles noch harmlos. Japanische Familien zeigen sich gegenseitig die Tobel hinter den Panoramafenstern. Eine Schweizer Reiseführerin erklärt der Damengruppe aus Pennsylvania den Ablauf ihrer Bergwanderung. Rucksäcke und Proviant werden zum Gipfel transportiert, stehen dort zur Verfügung und erwarten ihre Besitzerinnen nach der Tour wieder im Hotel. „Ouh!“ sagen die Besitzerinnen und streichen dankbar über Bäuche und Taschen.

Aus dem Val Bever fährt der Zug ins Hochtal des Oberengadin ein, 1.800 Meter über dem Meeresspiegel. Manche der Gipfel überragen das Tal um noch einmal 2.000 Meter. Die Luft ist dünn und klar. Schatten fliegen über die Berghänge, darüber ziehen Federwolken in einem tiefen Blau. Neben der Bahnlinie fließt der Inn, schmal, wild und eisig. Die Engadiner Dörfer bestehen aus massigen Bauernpalästen, die sich in Haufen zusammendrängen und Wohlstand ausdampfen. Sie haben dicke Mauern und kleine Fenster, die sich von der Außenwand zurückziehen. Bis zu acht Monate im Jahr ist hier Winter, viele Gipfel sind ständig eisbedeckt, und selbst im Sommer gibt es Schneefälle bis ins Tal.

Bei Samedan liegt eine Landebahn für Privatflugzeuge. Männer ziehen Caddies über künstliche Landschaften am Golfplatz. Da taucht der St.-Moritz-See auf, und dahinter die drei anderen Berühmtheiten: Champhér, Silvaplaner und Silser See. Dunkel und glatt liegen sie in der Windstille, als könne man auf ihnen laufen. Nadelwälder stehen an den Ufern. Und Hotels. Hotels jeder Fasson, einfache, edle, große, kleine. Manche imitieren Almhäuser, andere Schlösser, wieder andere sind einfach Riegel aus Beton. Die Gipfel sehen auf den Ankömmling herab.

Wer im Sommer ins Engadin reist, hat ein Ziel: Er geht Berge hinauf. Die Fremden sind gerüstet von Kopf bis Fuß. Bergstiefel, Kniebundhosen, Microfaserjacken. Manche benutzen Stöcke, keine krummen Spazierstöcke natürlich, sondern Kletterstöcke, höhenverstellbar und mit einer Schlaufe um das Handgelenk gesichert. Rhythmisch nach Hang- und Talseite stechend kann man sie schon am frühen Morgen auf Pfaden hinter Felsen verschwinden sehen. Auf dem Weg zum Wasserfall, auf dem Weg zur Gletscherzunge. Bergwärts.

Menschen trifft man im Engadin in Ehe- und Familiengemeinschaften, gelegentlich auch in Jugendgruppen, die durch gemeinsames Auf-den-Berg-und-wieder- herunter-Steigen auf das Ehe- und Familienleben vorbereitet werden. Dies ist kein Land für Singles. Die belgische Regierung besitzt das zweitgrößte Haus in der Schweiz, ein ehemaliges Hotel, in das sie Schulgruppen sendet, damit sie Berge hinaufsteigen. Im Engadin wurde auch „Heidi“ gedreht, der Familienfilm, und schon aus der Lektüre von Heidi weiß man, daß gesunde Luft, Berge und würzige Kräutlein Menschen zum Laufen anregen. Klara: „Ich kann gehen, Heidi, ich kann wieder gehen!“

„Diese Blumen dürfen Sie nicht pflücken, die Vorteile unserer Kapitalanlagen schon.“ Die Banken im Engadin werben mit Blüten. Mit Almrausch, Edelweiß und Enzian, die man nicht zupfen, höchstens trinken darf. Ein Mineralwasser dagegen provoziert mit sozialen Themen. An den Plakatwänden hängen Gesichter mit je einem riesig vergrößerten Auge, das durch ein Glas Mineralwasser starrt. Dabei steht: „Ich will meinen Freund heiraten können“ – so ein Mann, „Daß jemand sterben muß, damit ich weiterlebe, macht mich traurig“ – ein Herzpatient. Das Mineralwasser heißt im Untertitel „Quelle der Wahrheit“. Einer trägt lächelnd Uniform und schiebt sein Wägelchen mit Utensilien. Er kehrt den Parkplatz vor dem verkehrsberuhigten Dorf. „Grüezi“, sagt er, „grüez'ch“, „grüezi mitnand.“ So grüßt hier jeder jeden, egal, was er zu Hause sagt. Blicke mustern den entgegenkommenden Wanderer. Auf flauschigen Wiesen liegen knopfäugige Kühe. Murmeltiere spähen aus ihren Erdlöchern. Wenn man Glück hat, erlebt man auf einem Höhenweg eine Auseinandersetzung zwischen Murmeltierschützern und Haltern freilaufender Haushunde. Belgische Jugendliche tragen lachsfarbene Tücher um den Hals. Sie wandern in Gruppen von mindestens dreißig Leuten über Almwiesen, schreien emphatisch „grüez'ch!“ durcheinander und hören erst damit auf, wenn man mehrere Male zurückgrüeziet.

Durch die hohen Berge im Engadin wird das Wetter sichtbar. Kollektionen verschiedenartiger Wolken hängen tief oder hoch und schieben sich durcheinander. Licht und Farben ändern sich ständig, „hier, wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimat aller silbernen Farbtöne der Natur zu sein scheint“, so Nietzsche, der sieben Sommer lang das Engadin bewanderte. In Sils Maria kann man sein karges Zimmer besehen und auf einem feucht-kühlen „Nietzscheweg“ zum „Nietzschefelsen“ laufen.

Man könnte sich auch in einen Liegestuhl legen und viele Tage lang den Himmel beobachten, aber hier verlangen Ehepartner und Familienmitglieder voneinander, auf Berge zu steigen. Dabei steigt man eigentlich in die Tiefe. Das heißt, man lernt sich kennen. Beim Wandern offenbart sich der wahre Charakter deines Gefährten. Da ist zum Beispiel der „Genußwanderer“, ein Typ, der pelzige Pflanzen befühlt, versucht, die braunen Kühe an ihren Gesichtern zu unterscheiden, und nachsinnt, ob sie ihren Senner lieben. Er kommt nicht voran, er hält alle auf, er erreicht nichts. Anders der „Meditationswanderer“. Er sieht nicht nach links noch nach rechts, er wird durch das Gehen erfüllt, das ewige gleichförmige Gehen, jetzt um die Kehre in gleichem Tritt, er nimmt keine Abkürzung, das Gehen ergreift seinen Körper, dann übernimmt es seinen Geist, das Denken verläßt den Wanderer, und wieder um die Kehre läßt er sein Selbst hinter sich. Wenn er den Gipfel erreicht, ruht er. Der Talblick als Erhebung. Noch intensiver wird es beim „Leistungswanderer“, beim „Bergsteiger“ oder beim „Alpinisten“: Nur in der Vertikalen fühlen sie sich wohl. Hier bezwingt der Mensch Natur und umgekehrt. Der „Qualwanderer“, den es unbedingt geben muß, bewegt sich sicherlich in Höhen, die nur für seinesgleichen erreichbar sind.

Doch auch wenn sie nicht auf Berge steigen, sind Menschen in der Landschaft des Engadin Menschen beim Sport: Jogger, Reiter, Golfer, Surfer, Ruderer, Angler, Drachenflieger, Fallschirmspringer. Vom Auto aus kann man unter den Elastikhosen der Rennradfahrer die Bewegung der Muskeln studieren. Die Straßen im Engadin sind eng und haben viele Kurven, man kommt lange nicht an den Radfahrern vorbei. Einige von ihnen könnte man nach der Reise von hinten identifizieren.

Über dem Bernina-Paß, einem der sieben Wege ins Tal, hängen dunkle Wolken, wahrscheinlich transportieren sie Schnee. Man brauchte Handschuhe im August. Nebeneinander liegen zwei Seen, ein kleiner schwarzer, rund wie das Innere eines Auges, und darüber der „Lago Bianco“, der aber gar nicht weiß ist, wie sein Name sagt, sondern eisblau. Hier, 2.200 Meter hoch, gibt es fast keine Vegetation mehr, die Felsen sind düster, scharf weht der Wind, eine Herde Kühe steht sinnlos auf einem Schotterfeld am Wasser. Die Radfahrer, denen der scharfe Wind die fluoreszierenden Plastikjacken an den Leib preßt, flitzen vorbei, ohne anzuhalten.

Abends fallen die Temperaturen auch im Tal. Auf den Straßen von Samedan ist kein Mensch mehr unterwegs. Jetzt kann man hinter dicken Mauern an kleinen Fenstern sitzen und Bücher lesen wie: „Leuchtendes Engadin“ oder „Engadin – ein Zipfel vom Paradies“. Titel sind hier Programm. „Viel weniger Schönheit wäre immer noch viel zuviel“, wird behauptet, und an jeden, der anderer Meinung sein sollte, richtet sich die Mahnung: „Wer dem Engadin sein Herz verschließt, bleibt inmitten einer großen Landschaft, und selbst im schönsten Luxus, ein armer Mensch.“ Man liest, daß „Piz Buin“ „Berg des Rindviehs“ heißt – nach einem Weg, über den man Kühe trieb. Die Namen anderer Berge kommen daher wie Kosenamen unbeholfener Riesen. „Morteratsch“, „Corvatsch“, „Muottas Muragel“. Kann man nicht glauben, der „Muragel“ trüge einen Frotteeschlafanzug und würde am Abend von „Muotta“ ins Bett geschickt? „Grüezi, Bub, guet Nacht.“

Nachts gibt es helle Sternstraßen, und die Fremden haben komische Träume. Das liegt – glaubt man dem Reiseführer – an der 17fach (!) gesteigerten Sauerstoffaufnahme in der Höhe. Und wirklich bewegt sich was im Schlaf. Die Wanderer's Parade. Große Hände pflückten die Menschen von den Bergen und stellten sie ins Tal. Verwunderlich ist das anzusehen, all diese unterschiedlichen Modelle von Schnürstiefeln und Trekking-Shoes, Kartentäschchen und Fleece-Shirts, Calvin-Klein-BHs und abnehmbaren Kapuzen. Kuhglocken schellen rhythmisch, und alle Wanderer tanzen.

Morgensonne zerbricht den Traum. Auf den Bergen bewegen sich schon längst die bunten Punkte. Eine Jugendgruppe macht Frühsport am Hang. „Grüez'ch!“ ruft einem der freundliche Uniformierte hinterher und winkt noch mit dem Kehrbesen. Da blockiert eine Kuh den Weg. Geht man nach links, geht sie nach links, geht man nach rechts, geht sie nach rechts. Dann bleibt sie stehen, und man fällt in ihr glotzendes Auge.

Um das Engadin wirklich verstehen zu können, müßte man schizophren sein, so steht es jedenfalls in einem alten Buch. Das Liebliche und das Gewaltige, die gleichermaßen zu ihm gehören, könnte man nämlich erst dann in ihrer Einheit und vollkommen erfassen.

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