Die Schlammschlacht ist ausgeblieben

Zwei Tage vor den polnischen Parlamentswahlen kämpfen die Politiker in Breslau nicht um Stimmen, sondern die Bevölkerung mit den Folgen der Flut. Von der Regierung sind alle enttäuscht  ■ Aus Breslau Gabriele Lesser

Die Fensterflügel schlagen im Wind. An der Tür hängen noch die Fetzen der Wahlbenachrichtigung. Im Hinterhof liegen ein schlammverkrusteter Kinderwagen, Töpfe, zwei verbogene Fahrräder, eine zerschlissene Couch. Im zweiten Stock keift eine Frauenstimme. Irgendwo plärrt ein Radio. „Hure“, lallt ein Betrunkener und kämpft sich die finstere Treppe hoch. Licht gibt es keines. Aus dem Keller weht Modergeruch. Vom Nachbarhaus stehen nur noch die Reste einer Brandmauer. Die Worcella- Straße in Breslau liegt mitten im „Bermudadreieck“, einem Viertel, in dem die Gescheiterten der Gesellschaft Unterschlupf gefunden haben. Fremde können dort leicht auf immer „verschwinden“.

Während des Jahrhunderthochwassers im Juli mußten die Einwohner zu ihren Wohnungen schwimmen, sich mühsam durch die brusthohe Kloake kämpfen oder auf den Rettungsdienst warten, der Trinkwasser und Lebensmittel brachte. Noch heute sehen viele Häuser aus wie nasse Säcke, aufgequollen und angeschimmelt. Die Bürgersteige im gesamten „Bermudadreieck“ sind aufgerissen: Überall werden neue Leitungen gelegt. Vor dem Winter soll auch ein großer Teil des zerstörten Fernwärmenetzes erneuert werden. Insgesamt sind 200 Kilometer Rohre neu zu verlegen.

Maciej Bluj vom Stadtamt in Breslau listet die Zahlen auf: „Das Hochwasser hat allein in Breslau Schäden in Höhe von 680 Millionen Zloty verursacht. Fast ein Drittel der Stadt war überflutet. Das Wasser hat die Straßenbahnschienen aus der Verankerung gerissen und die Oberleitungen zerstört. Kanalisationsrohre sind geplatzt. Manche Straßen und Bürgersteige „schwimmen“ noch heute. Die Asphaltdecke muß abgetragen und völlig erneuert werden. Das allein wird zusammen schon 100 Millionen Zloty kosten.“

Maciej Bluj zieht eine weitere Tabelle aus den Papierstapeln: „Viele Menschen, die heute noch evakuiert sind, werden nie wieder in ihre Wohnung zurückkehren können. Knapp 100 Häuser sind einsturzgefährdet und müssen gesprengt werden. Das wahre Ausmaß der Schäden aber werden wir erst nach dem Winter kennen.“

Aus dem Fenster im ersten Stock der Krasinski-Straße 4 lehnt ein fetter Mann, die Arme auf ein Kissen abgestützt. „Die sollen bloß kommen, die Politiker! Große Reden schwingen, das können sie. Aber den Dreck wegschaffen? Wir haben Ratten im Haus. Niemand stellt eine Falle auf. Die Haustür steht immer offen, Besoffene pissen und kotzen alles voll. Von den Politikern interessiert das ja keinen! Wo bleibt das Geld von der Regierung?“ Im „Bermudadreieck“ hängt kein einziges Wahlplakat. „Von uns geht niemand wählen. Es ist doch ganz egal, wer regiert. Das sind doch alles Gauner.“

Die Konferenz „Wie bauen wir Breslau nach dem Hochwasser wieder auf?“ ist gut besucht. Vor allem Manager und Rechtsanwälte großer Firmen sind gekommen, hohe Beamte und Vertreter der Industrie- und Handwerkskammern. „Die Verluste Breslaus entsprechen dem Haushaltsbudget eines ganzen Jahres“, erklärt Stadtpräsident Bogdan Zdrojewski. „Alleine schaffen wir es nicht. Von der Regierung erwarten wir einen Zuschuß in Höhe von zehn Prozent der Schäden. Das sind 60 Millionen Zloty (knapp 30 Millionen Mark). Den größten Teil der über 600 Millionen Zloty (300 Millionen Mark) müssen wir als Gemeinde aufbringen. Zuschüsse bekommen wir von der Europäischen Union und Stiftungen. Rund 30 Prozent der Schäden sind durch Versicherungen abgedeckt. Das größte Problem stellt Warschau dar. Bis heute hat uns die Regierung nur zwei Prozent der Schadenssumme als Hilfe zukommen lassen.“

Für Zdrojewski sind das schon scharfe Worte. Der 40jährige ist ein ruhiger Politiker, der seine Attacken wie ein Schachspieler plant. Skandalen geht er aus dem Weg. Doch am Mittwoch hatte ihn Ministerpräsident Wlodzimierz Cimoszewicz in einem Interview angegriffen. Zdrojewski hatte es gewagt, sich für die 50 Häuschen zu bedanken, die die Regierung für die Hochwasseropfer in Breslau zur Verfügung stellt, zugleich aber angemerkt, daß dies wenig hilfreich sei. „Das Geld wäre uns lieber gewesen.“ Mit der Summe hätte die Stadt mehr Wohnraum schaffen können. Insgesamt müssen mindestens 1.000 Familien eine neue Wohnung oder ein Haus bekommen. Die Regierungshäuschen aber sind so klein, daß sie nicht im Zentrum gebaut werden können. Dort aber wohnen die meisten Hochwasseropfer. Das Bauamt in Breslau muß nun an der Stadtperipherie neues Baugebiet ausschreiben und erschließen, außerdem die Fundamente legen.

Als Zdrojewski den Ministerpräsidenten dann auch noch an den ausstehenden Regierungszuschuß erinnerte, sah dieser offensichtlich nur noch rot: „Es gibt solche, die etwas tun, und es gibt solche, die nur rumreden“, blaffte er in dem Interview. Dies sei wohl als Wahlkampagne des Stadtpräsidenten zu verstehen, der für Breslau in den Senat ziehen wolle. Schon während der Flutkatastrophe sei er ständig in den Medien gewesen, organisierte Hilfe, feuerte die Leute auf den Deichen an, kaufte zusätzlich Sandsäcke.

In einem Gespräch mit der taz meinte der Stadtpräsident, daß er für den Senat kandidiere, um in Warschau eine Lobby für Breslau aufzubauen. Die Beziehungen zwischen Warschau und Breslau seien kühl. Wenn sich das nicht ändere, werde sich Breslau nicht so dynamisch entwickeln, wie dies die Bewohner der Stadt wünschten.

Ein großer Hotelier sieht in der Hauptstadt gar einen Bremsklotz für die wirtschaftliche Entwicklung der schlesischen Metropole. „Warschau blockiert den Ausbau des hiesigen Flughafens. Wir sind ein touristischer Magnet. Was Auslandsinvestitionen angeht, stehen wir inzwischen nach Warschau und Posen an dritter Stelle. Aber fast alle unsere Gäste wie auch die meisten Investoren müssen über Warschau fliegen. Das ist völlig unsinnig. Aber Polen ist eben noch immer ein Zentralstaat.“ Dieses Jahr müsse die Touristikbranche als Verlust abschreiben: „Die Deutschen haben gefehlt. Die haben wohl gedacht, sie bekommen in den Restaurants verseuchtes Wasser zu trinken und müssen in klammen Betten liegen.“

Die Nachmittagssonne wirft ein mildes Septemberlicht über den im Mittelalter angelegten Ring (polnisch Rynek). Alle Häuser sind restauriert. In der Mitte des Platzes steht das Rathaus mit dem Wahrzeichen der Stadt, dem kunstvoll gestalteten Ostgiebel. Hier ist das Wasser nicht hingekommen. Die Breslauer hatten Tag und Nacht Sandsäcke geschleppt, um „das Herz der Stadt“ zu retten. In den Läden ringsum können Bildbände über die Flutkatastrophe in deutscher, polnischer und englischer Sprache gekauft werden. Sogar eine Videokassette wurde produziert. Die 28 Zloty Kaufpreis (knapp 14 Mark) für Kassette oder Buch gehen direkt dem Breslauer Hochwasserfonds zu. Vor den ehemaligen Tuchhallen – heute ist dort ein Teil des Stadtamtes untergebracht – versucht eine junge Frau vergeblich, Wahlwerbung für die Wahlaktion Solidarność zu machen. Die Passanten bleiben nicht bei ihr stehen, sondern bei der farbenprächtig gekleideten Folkloregruppe aus Tibet. Gesang, Tanz und Akrobatik aus dem Fernen Osten haben mehr Anziehungskraft als jeder noch so interessante Parlamentskandidat. Ohne einen Blick darauf zu werden, stecken sie die Flugblätter, die die junge Frau ihnen in die Hand drückt, in die Einkaufstasche oder den nächsten Papierkorb. Nicht viel besser ergeht es zwei jungen Männern, die mit einem Megaphon vor der Post stehen. „Bewegung für den Wiederaufbau Polens. Du bist nicht allein. Gemeinsam bauen wir Polen.“

Alicja Guczpit, Mitglied des Breslauer Wahlstabes der oppositionellen Freiheitsunio“, bestätigt, daß alle Parteien auch im Hochwassergebiet ihre Wahlkampagne durchgeführt hätten. „Allerdings hat sie nur sehr kurz gedauert, gerade mal zwei Wochen. Außerdem war sie viel ruhiger als sonst. Die Schlammschlacht, vor der wir uns so fürchteten, hat es nicht gegeben. Alle Parteien haben im Vorfeld der eigentlichen Wahlkampagne Hilfsmaßnahmen für die Flutopfer organisiert. Die Freiheitsunion hat Kinder, aber auch junge Mütter mit Kindern und schwangere Frauen nach Danzig gebracht. Wir haben eine Möbelaktion für die Flutopfer gestartet. Die Breslauer schätzen Taten mehr als leere Versprechungen.“

Am Abend gehen auch im „Bermudadreieck“ wieder die Lichter an. Während aus den Kellern und Fluren noch der dumpfe Modergeruch weht, wird in einigen Parterrewohnungen schon renoviert. „Das ist in den meisten Fällen vergebliche Liebesmüh“, erklärt Maciej Bluj vom Stadtamt. „Die Häuser sind ja noch feucht. Wenn im Winter geheizt wird, sitzen die Leute in einer Waschküche. Der Frost wird manchen Häusern den Todesstoß versetzten. Dann müssen wir ein Sprengkommando losschicken.“

Grazyna Malysiak lacht leise. „Mich vertreibt hier keiner. Ich habe schon seit 18 Jahren diesen Salon. Der Fußboden ist neu, die Tapete. Freunde und Bekannte haben mir geholfen. Alle haben Geld geliehen. Das Wasser stand einen Meter hoch. Es sah furchtbar aus. Kämme, Bürsten und Lockenwickler, alles schwamm in dieser braunen Brühe. Die Hauben waren kaputt.“

Die 42jährige sieht sich stolz und glücklich um. „Ich habe alles wieder aufgebaut. Ich schaffe das schon. Ich habe schon ganz andere Sachen überstanden. Die schwarze Katze ist mein Zeuge. Sie ist mir zugelaufen. Das ist ein gutes Zeichen.“