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Seltsame Schweiz: Hausfrau onaniert und schreit ins Telefon! Von Wiglaf Droste

Eine „Sonnenfinsternis im Haus der Kommunikation“ versprach das Monatshoroskop, das mir der freundliche Kollege Boni Koller am Bahnhof in St. Gallen schenkte. Einen ganzen Monat kein Gelaber? Das hörte sich gut an. Doch schon wenige Minuten später mußte das schöne Schweigen gebrochen werden: Ausgerechnet im Fahrstuhl des Hotels wurden auf einer kleinen Karte „Eingeklemmte mit Schinken oder Salami“ für 5 Franken 90 angeboten, die „vom Zimmerservice bis 0 Uhr 30 serviert“ würden. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ knirschte ich verbittert. „So also kommt die Schweiz zu ihrem Reichtum: Arglose Touristen in Fahrstühle einklemmen und dann portionsweise verkaufen, und das sogar nachts!“

Keinen eingeklemmten, aber doch einen recht verklemmten Eindruck von Schweiz und Schweizer gewinnt man, wenn man im Blick, einer Art Bild-Zeitung der Schweiz, auf die Seite mit den Annoncen für gewerblichen, vor allem telefonischen Sex gerät. „Hausfrau onaniert und schreit ins Telefon“ liest man da, aber auch „Hausfrau onaniert auf dem Tisch!“ mit Ausrufezeichen. Ist das in der Schweiz Pflicht? Auf dem Tisch sitzen, onanieren und schreien? Vielleicht sollte ich meine Auswanderungspläne in die Schweiz noch einmal überschlafen? Denn wüst geht es zu im Land der vermeintlich Freundlichen, Höflichen, Netten und Stillen: „Nackte Frau beugt sich nach vorne und stöhnt.“ Aber warum nur? „Vulgäre Domina macht es dir in wenigen Minuten am Telefon.“ Ach nein, bitte nicht. „Techno-Girl, 22, holt Dir einen runter.“ Mit 300 beats per minute? War das überhaupt noch die Schweiz? Offensichtlich. „Lüht ah! Treibs ab Band. Los zue, schamlos. Frische Bändli ohne Code“ klingt doch sehr schweizerisch, und auch bei der angebotenen „Unterhöslischau“ dürfte es sich um eine einheimische Erfindung handeln. Immer hatte ich die Schweiz als ein prima Land angesehen, aber was ich jetzt las, machte mich doch malade. „Zwei Lesben befreien Deinen aus der Hose und befriedigen Dich live.“ War es das, was Ernesto Cardenal einmal mit Befreiungstheologie gemeint hatte?

Was ein „Jeansgirl“ ist, wollte ich lieber nicht wissen, „Läthitia, unser Erotic-Heidi!“ ließ mich den Glauben an Helvetia verlieren, und bei dem Angebot „Heute ist Schnuppertag!“ riß ich endgültig aus und floh. Fort wollte ich, nur weg von jenen Schweizer Vulkanen, in denen es vor unterdrückter Leidenschaft offensichtlich nur so brodelte und kochte. Das Pflaster war mir zu heiß – dann lieber schon nach Italien!

Erst kurz vor der Grenze, in Brissago am Lago Maggiore, stoppte ich. Hier stand jene Fabbrica di Tabacchi, in der die Rauchware herstellt wird, die Friedrich Glauser seinen Wachtmeister Studer rauchen ließ: Brissagos. Und während ich über dem See sitzend eine Mondfinsternis betrachtete – „die letzte in diesem Jahrtausend“, wie der akkurate Schweizer Radionachrichtensprecher gesagt hatte –, blätterte ich noch einmal in Glausers Roman Wachtmeister Studer. „Einer will nicht mehr mitmachen“, stand da, und dann: „Nicht drängen! Es kommt alles von selbst, wenn man genügend Geduld hat...“ – vielleicht ja sogar die Sonnenfinsternis im Haus der Kommunikation.

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