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Kasseler Spitzen

■ Die documenta geht, die Innenstädte bleiben. Künstler protestieren gegen Saubermänner und Spekulationspraktiken

Noch bis zum 28. September herrscht im weltoffen sich gebenden Kassel der Ausnahmezustand. Dann ist die 10. documenta zu Ende, und Obdachlose, Punks und Junkies werden wieder ganz offen wegen „verhaltensbedingter Gefahren“ aus der City verdrängt. Zwei Bauwagenplätze haben schon eine Räumungsdrohung auf dem Tisch liegen.

Parallel zu einem überregionalen Vorbereitungstreffen von „Innenstadt-Aktionsgruppen“ haben die Leute aus den Bauwagen auf der Wiese vor der Orangerie das dreitägige Veranstaltungsprogramm „100 Stunden Raum & Zeit“ hingelegt. Es liefen Videos mit der im Sommer umherreisenden Berliner Videogruppe aK Kraak zur innerstädtischen Verdrängung und eine auf dem Rasen ausgebreitete Ausstellung zur massiv von der Polizei zusammengeknüppelten Frankfurter Rave- Demo „Lärm 97“. Als Konsensmusik lief Daft Punk vom DJ-Set, Zwischenansagen verwiesen auf die aktuelle Räumungssituation, während von Volleyball über Unterschriftenlisten bis zu Info- Fenstern die Kunstflaneure schräg gegenüber den Ausstellungsräumen mit hineingezogen wurden.

So weit liegen documenta und die Wagenplätze auch gar nicht auseinander: Der eine, K18, geht auf ein Projekt des Fachbereichs Sozialwissenschaft zurück, während „Hotz 'n' Plotz“ parallel zur documenta VII als lokales KünstlerInnenprojekt und Teil eines Skulpturengartens entstand. „Auf der documenta X setzen sich Künstler wie Hans Haacke und Marc Pataut in ihren Arbeiten kritisch mit kriminellen Spekulationspraktiken und der Zerstörung selbstgeschaffener Lebensräume auseinander. Auf die Vorgänge in der Stadt Kassel hat das offensichtlich keine Auswirkung.“ So steht es im Faltblatt „Kasseler Kahlschlag“ der Wagenplätze als Info neben dem Spektakel.

Die im „Kulturbahnhof“ ausgestellte fotografische Bestandsaufnahme von Marc Pataut begleitet die Vertreibung des Hüttendorfes „Le Cornillon“ im Pariser industriellen Norden, wo zwischen Autobahn und Kanal zur Fußballweltmeisterschaft 1998 das „Stade de France“ entsteht. Seit dem Bebauungsbeschluß Ende 1993 bis zum Baubeginn 1995 verfolgte Pataut das Leben der „Entwurzelten“ sowie deren Räumung, die Einzäunung und Zerstörung der Siedlung durch das Bauunternehmen und die beginnende Aufstellung von Betonfertigteilen. Wie auch die historischen Arbeiten von Gordon Matta-Clark und Hans Haacke zur Immobilienspekulation in New York hat die documenta-Leitung wichtige Exponate zu diesem Thema zusammengestellt, zugleich aber geht die Kasseler „Retroperspektive“ auf Distanz zu ihrem – zeitlich wie lokal – direkten Umfeld.

Dagegen wehrt sich der dX-Masterplan, den der Verein zur Entprivatisierung und Entkommerzialisierung der Innenstädte e.V. erstellt hat: „Das dX-Postulat, ,daß es heute um eine Untersuchung der ästhetischen Produktion im Zusammenhang ihres im weitesten Sinne politischen Umfelds gehen muß‘, wird zur Hohlformel, wenn der im Ausstellungskonzept angelegte gesellschafts- und kulturkritische Anspruch nicht zur praktischen Intervention gegen die Ausgrenzung von marginalen kulturellen Praktiken in der direkten Nachbarschaft der Museen führt.“

Treffen antirassistischer Gruppen in hybriden Arbeitsräumen oder die demonstrative Selbstdarstellung der Bauwagen werden im Zuge des documenta-Sommers weitgehend toleriert. Doch wenn nächste Woche die internationalen Kunsttouristen abgezogen sind, greift die Anfang des Jahres erlassene „Gefahrenabwehrverordnung“ wieder in vollen Zügen. Die darin zonierten Schwerpunkte für „Verhaltensmaßregelungen“ decken sich auffällig mit der Kunstachse: „Mit dem Ausstellungsparcours der documenta X durchlaufen Sie eine städtische Aufenthaltsverbotszone.“ Darauf weist ein „dX-Masterplan“ im Stile der offiziellen documenta-Werbung hin, herausgegeben vom „Verein zur Entprivatisierung und Entkommerzialisierung der Innenstädte e.V.“ aus dem Umfeld der Kasseler „Innenstadt-Aktionsgruppe“.

Die polizeilich besonders kontrollierte Zone erstreckt sich vom „Kultur- Bahnhof“ und seinem Vorplatz mit benachbarten Neubauten der Industrie- und Handelskammer sowie des künftigen Polizeipräsidiums durch die Unterführungen über die Einkaufszonen, vorbei an der 1995 eröffneten Shoppingpassage Königs-Galerie entlang der Treppenstraße als erster bundesdeutscher Fußgängerzone bis zum Friedrichsplatz mit den zentralen Ausstellungsgebäuden und der Karlsaue weiter unten am Fluß. Außer Buchhandelscontainern und Kassenhäuschen belegt vor allem die Mobile Wache der Polizei mit etwas mehr Grün auf dem Parcours den ansonsten leergefegten Platz vor dem Fridericianum.

Jochen Becker

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