■ Vorschlag: Heilige Einfalt! Das ThéÛtre Ubu läßt Pessoas Gespinste aufziehen
„Ich ist ein anderer.“ Kein Wunder, daß Charles Baudelaire als Waffenhändler endete. Der wahrhafte Künstler wechselt öfter. Fernando Pessoa (1888–1935) etwa mochte sich mit weniger als fünf „anderen“ nicht bescheiden. Für seine „Heteronyme“, unter deren Namen er die Mehrzahl seiner zu Lebzeiten erschienenen Gedichte veröffentlichte, erfand der Avantgardist aus Lissabon nicht bloß komplette Biografien, er versah sie auch mit kuriosen Weltanschauungen und je eigenen dichterischen Formen und Stilen.
Eine schlagend einfache Begründung für die biografische Verschwendungslust gibt Antonio Tabucchi, der Herausgeber der italienischen Pessoa-Gesamtausgabe, in „Die drei letzten Tage des Fernando Pessoa“: „Ich war alle anderen, die ich sein konnte, weil das Leben nicht reicht,“ spricht der bettlägerige Dichter und lächelt fein. Wie Philologen sich das so vorstellen. Und weil Tabucchi für Pessoa „bis zur Besessenheit Zuneigung“ gefaßt hat, bleibt der Untertitel seines kleinen Stückes leere Drohung. Kein dem Alkoholiker Pessoa würdiges „Delirium“ gesteht er ihm zu, bloß ein melancholisches Abschiednehmen von seinen „Andersnamigen“.
Denis Marleau ist ein Spezialist für Maniacs. Klar, daß er nach den Surrealisten, Schwitters und Bernhard auch auf Pessoa stoßen mußte. Für sein ThéÛtre Ubu aus Montreal hat er Tabucchis Erzählung dramatisiert. Na ja, videographiert wäre genauer. Schließlich handelt es sich bei Pessoas „Heteronymen“ nicht um Figuren im herkömmlichen Sinne, eher um Gespinste, weshalb den Schauspielern kurzerhand Masken verpaßt wurden, auf die sie Gesichter projizieren. Weil aber der virtuelle Schnickschnack enge technische Grenzen setzt, marschieren die Besucher hübsch brav, einer nach dem anderen ans Sterbebett ihres Erfinders, mal trägt Pessoa, mal seine Kreatur das künstliche Gesicht. Merke: So wie Pessoa seine „anderen“ erfindet, erfinden die „anderen“ Pessoa. O heilige Einfalt! Da den Schauspielern nur delikateste Bewegungen erlaubt sind, andernfalls ihr Antlitz zu entgleisen droht, schnüren der Einfachheit halber gelegentlich Papp-Popanze herein, einmal ein Zwerg, der andere, von wegen der Abwechslung, ein Riese. Zu sehen gibt's wegen der Verrutschgefahr nur artiges Brauenlupfen und Augenwinkelschauen, zu hören dafür reichlich Pessoa-Poesie. Und einige hübsche Schnurren von Kuttelflecken, einem Hund, der mit der Pfote das Versmaß vorgibt und, als Höhepunkt, das Rezept für geschwitzten Hummer. Wohl bekomm's. Nikolaus Merck
Heute um 21 Uhr im Theater am Halleschen Ufer (32).
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