: Lernen, wenn man Bock hat
Keine Regeln, keine Grenzen: Das Lernen in der Alternativschule orientiert sich am Spaß und am Interesse der Schüler. Ein Tag in der Freien Schule auf dem Ufa-Gelände ■ Von Corinna Budras
Große Freude im Klassenraum: Der 11jährige Pablo reißt seine rechte Faust zum Superman-Gruß in die Höhe und brüllt lautstark: „Yeah! Richtig!“ Auf Anhieb hat er die Vergangenheitsform von to go gefunden. Nach der ersten Begeisterung kommt er schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „Du, Dietmar, komm mal her!“ verlangt er. „Ich hab' da mal eine Frage.“
Unterricht in der Freien Schule auf dem Ufa-Gelände in Tempelhof: Der Lärmpegel der drei Kinder im Klassenraum liegt weit über dem einer staatlichen Grundschulklasse mit 25 Schülern. Trotzdem ist die heutige Unterrichtseinheit für einen typischen Schultag in einer alternativen Grundschule scheinbar nicht repäsentativ. Lehrer Dietmar Struck zuckt mit den Schultern: „Normalerweise ist das hier nicht so unkommunikativ“, entschuldigt er die Situation. „Aber im Moment schreiben wir einen Englischtest.“ In einem Jahr gehen die drei Jungs aufs Gymnasium – und da müsse man sie auf diese schriftlichen Sachen vorbereiten.
Pablo sitzt derweil an seinem Englischtest und trennt energiesparend die wichtigen Fragen von den unwichtigen. „Die Pastform von write brauche ich nicht“, stellt er fest. „Die bringt nur drei Punkte!“ Der blonde Till neben ihm kalkuliert weniger ökonomisch. „Was ist denn die Vergangenheitsform von have?“ will er wissen. Pablo hilft, verlangt aber eine Gegenleistung. Während des lebendigen Austauschs zwischen den beiden sitzt der 11jährige Nickel über seinem Blatt und kreischt ein Liedchen. Dietmar pendelt hin und her und versorgt seine Schützlinge mit den nötigen Informationen, ohne zuviel zu verraten. Meistens reicht ein kleiner Anstoß.
Bald sind Till und Pablo fertig und gehen zum Spielen nach draufen. Bei Nickel dauert es noch etwas länger, aber eine Pause möchte er nicht machen. Es dauert eben so lange, wie es dauert. Eine Grundidee der Freien Schule ist schließlich die lockere Gestaltung des Tagesablaufs: keine Unterrichtseinheiten, keine festen Gruppen, keine starre Pauseneinteilung, nicht mal eine geregelte Anfangszeit.
„Ab neun können die Kinder kommen und hier frühstücken“, erklärt Thomas Sobek, Lehrer der Freien Schule. Dann würden sich die Kinder mit den Lehrern unterhalten und miteinander Ideen entwickeln, was die Kinder den Tag über, vielleicht auch in Gruppen, machen möchten. Die Gruppen können von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag variieren. Mal sind es zwölf Kinder, mal nur zwei, die Unterricht von einem Lehrer bekommen. Je jünger die Kinder sind, desto flexibler ist ihr Tagesablauf. Bei den größeren ab der fünften Klasse kann es schon festere Termine geben. Zum Beispiel jeden Dienstag und Donnerstag Englischunterricht.
Auch Einzelunterricht gibt es: Im Nebenzimmer ist der 10jährige Franz mit Oskar verabredet, um mit ihm sein Matheprojekt zu besprechen. Mit bunten Farben hat er das Einmaleins geschrieben und ist bei 17 mal 33 ins Stocken geraten. Seit über zwei Wochen sitzt er nun schon dran. Immer dann, wenn er Lust dazu hat. Im Moment hat er Lust und läßt sich von Oskar erklären, was er falsch gemacht hat. Am Nebentisch sitzen Lea und Judith, fünf und sechs Jahre alt, und malen.
Der 21jährige Brian war in einem der ersten Jahrgänge der Freien Schule, die inzwischen seit 18 Jahren existiert. Nach sechs Jahren an der Freien Schule kam er auf die Gesamtschule. „Der Übergang ist zwar eine Umstellung, aber kein Problem gewesen“, erklärt er. An den geregelten Unterrichtsablauf und das Stillsitzen habe er sich schnell gewöhnt. Schwierigkeiten gab es manchmal mit seiner lockeren Umgangsform gegenüber den Lehrern, die er von der Freien Schule mitgebracht hatte: „Die waren es einfach nicht gewohnt, auf gleicher Ebene angesprochen zu werden“, erklärt er. „Die haben das immer gleich als ein Machtspiel mißverstanden.“
Ein anderes großes Problem war für Brian schon immer die Rechtschreibung. Erst ab der sechsten Klasse hat er richtig damit angefangen. „Irgend etwas muß in der staatlichen Grundschule passiert sein, daß mir das Schreiben für lange Zeit verleidet hat“, erzählt Brian. Die Lehrer in der Freien Schule haben immer mit Tricks versucht, ihn dazu zu bringen, bis er sich selbst dafür interessierte. Besonderer Pluspunkt der Freien Schule: „Die Schüler sind nicht so verbraucht“, findet Brian. „Die haben mehr Spaß am Lernen.“ Außerdem lerne man schon früh, sich selbst zu beschäftigen.
Auch der 13jährige Tobias hatte beim Übergang kaum Schwierigkeiten. „Zuerst mußte ich mich immer zwingen, an die Hausarbeiten zu denken“, gibt er zu. „Aber ansonsten hätte ich mir das schlimmer vorgestellt.“
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