piwik no script img

■ Keine Fanfaren, kein Feuerwerk. Am 3. Oktober geht es eher freudlos zu. Die Deutschen tun sich schwer mit ihrer GeschichteDie Unfähigkeit zu feiern

Was kann ich bloß am 3. Oktober in Berlin tun? Seit einigen Tagen wühle ich die Zeitungen auf der Suche nach einer Feierlichkeit durch. Kein Umzug. Keine Flugstaffeln, die den Himmel zerreißen. Keine Fanfaren. Kein Feuerwerk. Keine Bälle fürs Volk. Nichts. Oh, doch, Entschuldigung! In Stuttgart (Föderalismus verpflichtet) wird Kanzler Kohl den offiziellen Feierlichkeiten vorsitzen. Ein affektierter und langweiliger Empfang im Stadttheater, den das Volk nur am Fernsehschirm verfolgen kann.

Aber ich verwechsle natürlich Frankreich und Deutschland. Unseren 14. Juli mit eurem 3. Oktober. Wenn in Frankreich der Nationalfeiertag nur erwähnt wird, wirbelt in der Phantasie aller französischen Schüler ein Schwarm epischer Revolutionsbilder auf: der Sturm der Bastille, die Guillotine, die Sans-Culottes, die Carmagnole [Lied und Tanz; A.d.Ü.], die Verkündung der Menschenrechte ... das ist der Stoff, aus dem die Träume sind.

Dagegen ist am 3. Oktober eigentlich nie etwas passiert. Es ist ein totes Datum, ohne Bezug zu irgendeinem spektakulären Ereignis, außer zu diesem leblosen rechtlichen Inkrafttreten eines Einigungsvertrages. Sollen deutsche Schüler davon träumen, daß eine düstere Gruppe führender Verwaltungsbeamter, eingezwängt in ihre Anzüge und um einen Tisch versammelt, eines Tages aufs Geratewohl entschieden haben: „Na los! Nehmen wir einfach den 3. Oktober!“?

Ging es bei dieser Entscheidung nicht vor allem darum, den 9. November zu umgehen, das eigentliche würdevolle Datum von 1989? Leider war das schon durch das Drama von 1938 belastet. Die armen Deutschen, einmal widerfährt ihnen ein so phantastisches Ereignis wie der Fall der Mauer, da muß dieses Datum schon durch die Nazis beschmutzt sein.

Ich weiß, daß die Geschichte Frankreichs und die Deutschlands unterschiedlich sind; sie haben jeweils eine andere Beziehung zur eigenen Nation. Die Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution war ein Exzeß: Jessie Norman stimmte unter dem Triumphbogen, eingehüllt in die französische Flagge und vor der bebenden Nation die Marseillaise an. Es ist schwer, sich die Deutschen bei einer ähnlichen selbstverliebten Inszenierung vorzustellen. Sofort tauchen die Schattenbilder der Paraden von Nürnberg in der Erinnerung auf. Wohl deshalb fallen die Festivitäten zum siebten Geburtstag der Vereinigung zu bescheiden aus.

Ich erinnere mich, daß sich die ausländischen Journalisten sehr unwohl fühlten, als sie am 3. Oktober 1990 am Fackelzug durch das Brandenburger Tor teilnahmen. So sehr mir der Sinn der Franzosen für Selbstglorifizierung obszön und unzeitgemäß erscheint, so sehr macht mich dieses Sang- und Klanglose in Deutschland wütend. Verpassen die Deutschen durch ihre Angst vor sich selbst und vor den Dämonen der Vergangenheit nicht gerade eine Chance? Wenn sie schon mehr Zurückhaltung demonstrieren müssen als die Franzosen (obwohl ein wenig mehr davon denen auch nicht schlecht täte!), gibt es keinen Grund für diesen Mißmut am 3. Oktober.

Warum sollten die Deutschen diese Vereinigung, die ihnen im großen und ganzen doch recht gut gelungen ist, nicht feiern? Der Fall der Mauer war ein schönes Ereignis: pathetisch, historisch, spektakulär. Es war gewaltlos und wurde mit wehenden Fahnen besiegelt. Die Franzosen würden sich immer noch wegen der Formulierungen des Vertrages streiten! Die Nachbarländer Deutschlands, am Anfang zögernd (man erinnere sich an das Zaudern Mitterrands im Dezember 1989), haben das „große Deutschland“ mittlerweile als eine Tatsache akzeptiert. Deutschland ist demokratisch geblieben, hat keinen „Sonderweg“ eingeschlagen und ist immer noch die treibende Kraft bei der Vereinigung Europas.

Ich höre schon die professionellen Nörgler: Die Wiedervereinigung? Gelungen? Und dann folgt der Rattenschwanz an Klagen: Die Wiedervereinigung ist zu teuer. Und was ist mit der Arbeitslosigkeit? Und mit den faulen Ossis? Und den arroganten Wessis? Oder mit dem Gejammer, mit dem die Ostler den Westlern hemmungslos in den Ohren liegen? Gerade wegen dieser Schwierigkeiten, dieser „Mauer im Kopf“, wäre eine schöne, große Feier – darf ich wagen, „Nationalfeier“ zu sagen? – notwendig gewesen.

Aber die Deutschen sind sich, anders als die Franzosen, der Wichtigkeit von Symbolen nicht bewußt. Und Helmut Kohl ist auf diesem Gebiet sehr tolpatschig: Jeder erinnert sich der traurigen Episode auf dem Friedhof in Bittburg. Willy Brandt hatte diese Gabe. Wie oft wurde sein Kniefall in Warschau in den Geschichtsbüchern als Symbol deutscher Demut abgebildet. Eine Erinnerungsfeier für die phantastische Nacht des Mauerfalls wäre angebracht. Das könnte die Vereinigung festigen, gemeinsam könnte man die Probleme wenigstens einen Tag lang vergessen.

Was mache ich nun am 3. Oktober? Ich muß an diesem Tag unbedingt die unvermeidlichen Diskussionen, Talkshows, Konferenzen und hirnmarternden Veranstaltungen aller Art vermeiden. Schon vor acht Jahren, bei meiner Ankunft in Bonn, warnte mich ein Kollege, Korrespondent in Deuschland: „Du wirst sehen, nach zwei Monaten kannst du ihr Gerede über die ,deutsche Frage‘ nicht mehr hören.“ Ich war damals so naiv zu glauben, daß die Frage überflüssig würde, sobald die zwei Länder wieder zusammengeschweißt wären.

Viele mokieren sich über die Unfähigkeit der Deutschen zu feiern. Eigentlich lehne ich solche Klischees ab. Aber wenn ich sie mir am 3. Oktober anschaue, frage ich mich, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit darin liegt. Denn das machen die Deutschen an ihrem Nationalfeiertag: Sie meditieren, grübeln und denken miteinander über sich nach. Das ewige Problem der Deutschen mit Deutschland.

Dieses Jahr ist der 3. Oktober Gott sei Dank ein Freitag. Eine gute Gelegenheit, bis Sonntag abend freizunehmen. Dieser Zufall ist ein Glück! Wäre dieser 3. Oktober ein Sonntag, hätten viele Deutsche nicht einmal gemerkt, was für ein Tag das ist. Freitag aber, wenn es nicht regnet (es würde gut passen, wenn es ausgerechnet am Tag der deutschen Wiedervereinigung regnete), mache ich, was die meisten Deutschen auch tun: Ich fahre aufs Land. Weil ich aber Französin bin, ist mir weh ums Herz bei dem Gedanken an den großen Umzug auf den Champs Elysées und die Bälle fürs Volk. Pascale Hugues

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen