„Man hat die Kompetenz der Kollaboration genutzt“

■ Der Historiker David Douvette über den schwierigen Umgang Frankreichs mit seiner Vergangenheit

Douvette (54) ist Mitglied des CRJF, dem französischen Pendant zum deutschen Zentralrat der Juden. Er forscht über Vichy.

taz: Warum hat es über 50 Jahre bis zum ersten Prozeß gegen einen Vichy-Spitzenbeamten gedauert?

David Douvette: Weil vorher der französische Staat und die französische Öffentlichkeit jede Verantwortung für die Regierung von Vichy abgelehnt haben – also auch für die Repressionen gegen die Juden. Der Prozeß von Bordeaux ist ein Symbol, bei dem die Person Papon sekundär ist. Entscheidender ist seine Funktion: die eines Spitzenbeamten, der ein Treuegelübde auf Marschall Pétain abgelegt hat und der von der französischen Regierung aufgefordert worden war, mit den Besatzungbehörden zu kollaborieren.

Das erklärt nicht, daß selbst Überlebende der Deportation lange geschwiegen haben.

Frankreich tut sich schwer mit seiner Geschichte. Das gilt für alle Franzosen – auch für die Opfer. Nach der Befreiung sollte sich das Volk wieder vereinen. Die Juden wollten sich erneut in die französische Gemeinschaft eingliedern. Die Kommunisten sagten zu den jüdischen Kommunisten: Wir sind alle Résistants und Kommunisten, wir wollen nicht die einen von den anderen unterscheiden. Die Zionisten sagten: Wir haben hier nichts mehr zu tun, wir müssen den Staat Israel aufbauen. Dazu kommt, daß die jüdischen Familien nach dem Krieg andere Sorgen hatten, als Gerechtigkeit zu verlangen. Es gab solche, die aus den Lagern zurückkamen. Man mußte sich wieder verheiraten. Kinder kriegen. Arbeit finden.

Worum ging es dann bei den Verfahren, die direkt nach dem Krieg gegen zahlreiche Kollaborateure stattfanden.

Immer um Verrat – Verrat der Freiheit, der Republik oder der Demokratie, aber nie um Judenverfolgung. Das Beispiel hat erst Israel mit dem Eichmann-Prozeß gegeben, dem ersten Verfahren gegen einen Nazi-Würdenträger. Das war 1960 – 16 Jahre nach der Befreiung. International war das der Auslöser. Nach dem Krieg waren die Juden überall in einer sehr schwierigen Lage. London verbot die Immigration nach Zypern. In Polen gab es Massaker. Man war noch nicht reif, um sich für die eigenen Rechte einzusetzen.

Warum hat vor Jacques Chirac kein Präsident von einer Verantwortung Frankreichs für die Vichy-Verbrechen gesprochen?

Präsident Chirac war der erste, der kein Akteur in der Okkupation war. Alle seine Vorgänger – Pompidou, Giscard, Mitterrand – waren eng mit Vichy und dem Anti- Vichy verwoben. Nehmen Sie Mitterrand, der war zuerst Vichyssois und dann Resistant. In den Familien der anderen Präsidenten gab es große Vichy-Verantwortliche.

Sie wollen doch nicht etwa General de Gaulle, der am 18. Juni 1940 von London aus zum Widerstand aufrief, ein Engagement für Vichy nachsagen?

Nein. Er hat den Konsens der Verdunkelung eingeführt. Als er 1945 die Macht im Namen des Frankreichs der Résistance übernahm, hat er die Politik der „nationalen Aussöhnung“ installiert. Außerdem darf man den Kalten Krieg nicht vergessen. Die Verantwortlichen von Vichy sind nach dem Krieg Berater der französischen Antikommunisten geworden. Man hat die Kompetenzen der Kollaboration benutzt. Am Tag nach dem Sturz von Vichy konnte der Staatsaparat ja nicht einfach aufhören zu funktionieren. Es waren Beamte nötig. So wurden die Präfekten, die Vizepräfekten, die Spitzenbeamten nach der Befreiung weiter eingesetzt. Nur 20 Prozent der Richter verloren ihre Stellen. Bei der Polizei, die die Judenrazzien durchgeführt hat, blieben selbst Kommissare im Amt. Es gab eine Kontinutität des Staates. Das hat de Gaulle entschieden.

War die Angst vor einem Bürgerkrieg begründet?

Es gab ein antikommunistisches Phantasma. Nach der Résistance gab es viele Waffen und militärische Einheiten. Man hatte in der Tat Angst vor einem kommunistischen Staatsstreich. Das hat auch dazu beigetragen, daß Kollaborateure eingesetzt wurden.

Warum haben die Kommunisten bei der „nationalen Aussöhnung“ mitgemacht?

In der kommunistischen Résistance hatten ausländische Kämpfer die Vorherrschaft. Doch Gaullisten und Kommunisten haben eine Geschichte des nationalen Widerstands gezeichnet. Man hat die Ausländer beiseite geschoben. Sie sollten den Sozialismus in Polen, Ungarn etc. aufbauen.

Kann man heute von einer Aussöhnung der Franzosen mit ihrer Geschichte sprechen?

Der durchschnittliche Franzose weiß nichts über die Ereignisse. Bis vor kurzem gab es nichts über Vichy in den Geschichtsbüchern, es gab keine Fernsehsendungen. Heute sind von den mehrheitlich katholischen Franzosen 72 Prozent damit einverstanden, daß der Papon-Prozeß stattfindet, weil sie die Verantwortung von Spitzenbeamten in Vichy feststellen wollen. Wir befinden uns in der Phase von Entdeckung der Geschichte. Erst danach könnte man von Aussöhnung sprechen.

Finden Sie als Historiker ein halbes Jahrhundert Verspätung bei der Aneignung der eigenen Geschichte nicht ziemlich lang?

Im Gegenteil: Es gibt eine Beschleunigung der Geschichte. Früher hat es Jahrhunderte gedauert. Nehmen Sie den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten in Frankreich. Das psychologische Schisma, die „Sankt-Bartholomäus-Nacht“ von 1572 [mit Tausenden ermordeter Protestanten; Anm. d. Red.] ist auch nach fünf Jahrhunderten nicht verarbeitet.