■ Die Gewerkschaften verkünden das „Ende der Bescheidenheit“. Dabei droht die Arbeitszeitverkürzung auf der Strecke zu bleiben
: Das Ende der Solidarität?

Mit „Ende der Bescheidenheit“ hätte das Publikum vor ein paar Monaten nur eins verbunden: die unbescheidene Forderung nach der 32-Stunden-Woche. Inzwischen ist bei den Gewerkschaften einiges passiert. Im Südwesten hat die IG Metall mit ihrem Altersteilzeitabschluß die Arbeitszeit (allerdings die 35-Stunden-Woche) bis zum Jahr 2000 auf Eis gelegt. Und in der ÖTV hat die Große Tarifkommission mit ihrem Insistieren auf dem vollen Lohnausgleich gegen den Willen des Vorstands eine wirksame Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzung für die nächste Tarifrunde praktisch von der Tagesordnung gesetzt. „Ende der Bescheidenheit“ heißt heute schlicht: Mehr Geld!

Schaut man sich die gehandelten Argumente näher an, so könnte das eher eine Zeitenwende gewerkschaftlicher Tarifpolitik sein als nur ein Stolpern auf dem bisherigen Weg. Bald also kein Degenhardt-Poster mit dem historischen Zug der ArbeiterInnen (von der 48-Stunden- über die 40-Stunden-, 35-Stunden-Woche ... in die Zukunft) mehr in den gewerkschaftlichen Amtsstuben?

Die neuen Mehrheiten gehen, zumindest in der ÖTV, auf eine bemerkenswerte Koalition zwischen der traditionellen Arbeiterbasis und linken Teilen der Führungsebene zurück. Den ArbeiterInnen, aber bei weitem nicht nur ihnen, schwillt allmählich der Kamm angesichts jährlicher Tarifrunden, die ihnen letztlich nur Minus brachten, währenddessen auf der anderen Seite der Gesellschaft Einkommen und Reichtum schier explodieren.

Klar, daß in dieser Stimmungslage zunächst wenig Platz ist für die andere Verteilungsfrage, die des horizontalen Ausgleichs zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten. Daß das Hemd näher ist als der Rock ist immer der Ausgangspunkt. Die Arbeiter sprechen es nur deutlicher aus. Und daß Solidarität immer etwas Erarbeitetes ist, das Ergebnis von Diskussion, Überzeugung, Überwindung von Angst, Vertrauen auf den Rückhalt der Gruppe oder Organisation, auch das war – gerade in der Arbeitszeitfrage – schon immer so. Ohne diesen mühsamen Prozeß durchlaufen zu haben, hätte die IG Metall in den 80er Jahren das Arbeitszeitthema innergewerkschaftlich nie tariffähig machen, geschweige denn die 35-Stunden- Woche durchsetzen können.

GewerkschafterInnen, die sich diesem Prozeß stellen, müssen dicke Bretter bohren und können nicht auf schnellen Beifall hoffen. Natürlich kommt es in einer Personalversammlung erst mal gut an, Arbeitszeitverkürzung als moralische Tarifpolitik, als caritative Veranstaltung zu desavouieren und dem spontanen Prozentradikalismus der Arbeiterbasis zu schmeicheln. Ist ja verständlich, die linke Freude über Anzeichen einer neuen Radikalisierung, darüber, daß wieder klarer von Oben und Unten, von Arm und Reich gesprochen wird. Aber müssen linke Intellektuelle diese Protesthaltung in ihrer vorsolidarischen Artikulation stärken und den theoretischen Flankenschutz für eine Entsolidarisierung innerhalb der ArbeiterInnenbewegung liefern?

Nur eine ordentliche Lohnrunde löse einen entsprechenden Nachfrageimpuls aus, heißt es unter Berufung auf Keynes. Bei einer Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich addieren sich der Lohnverzicht und die unterbliebene allgemeine Lohnerhöhung zu einem Nachfrageausfall, der beschäftigungspolitisch das Gegenteil von dem bewirke, was er beabsichtige. Im Nachsatz wird zwar eingeräumt, daß auch die wieder in Lohn und Brot kommenden Arbeitslosen Nachfrage auslösen, aber das könne man vernachlässigen, weil die Beschäftigungseffekte von Arbeitszeitverkürzung eh zweifelhaft seien. Hier also die naiven Moralisten und da die gesund egoistischen Arbeiter, die unbewußt – List der Vernunft – noch makroökonomische Rationalität exekutieren. Die Stärke des Keynesianismus und seiner unterkonsumtionstheoretischen Vorläufer war es schon immer, daß sie den existentiellen Forderungen einer Arbeiterbewegung, die sich der ursprünglichen Legitimität ihrer Anliegen nicht sicher genug war, die höheren Weihen des gesamtgesellschaftlich Vernünftigen verlieh.

Was die politisch-ökonomische Konsistenz dieses Gebrauchs- Keynesianismus anbelangt, konnte man leichten Herzens ein Auge zudrücken, solange er die Durchsetzbarkeit berechtigter Forderungen gegenüber Staat und Kapital erleichterte: Keynes als Kronzeuge für eine Rückkehr zur alten Prozentpolitik und gegen Arbeitszeitverkürzung, für Korporatismus und gegen die Solidarität innerhalb der Klasse anzuführen, wird wohl nicht im Sinne des Erfinders sein.

Die Gewerkschaften, das zeigt der neue Streit um Arbeitszeitverkürzung, tun sich in Zeiten zugespitzter Verteilungskonflikte besonders schwer, die vertikale (Arbeitgeber – Arbeitnehmer) Verteilungsfrage mit der horizontalen (Arbeitnehmer – Arbeitslose) zu verknüpfen. Sie werden sich aber letztlich nur behaupten, wenn sie sich nicht allein als Organisation derer verstehen, die ihre Arbeitskraft verkaufen, sondern all derer, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, Arbeitslose also eingeschlossen. Die Reduzierung von Arbeitslosigkeit auf ein moralisches Problem übersieht, daß es sich unter dem Konkurrenzdruck von 5 Millionen Arbeitslosen auch vertikal schlecht kämpfen läßt (die Arbeiter sind übrigens die ersten, die dieses Argument nachvollziehen werden).

Zwei Grundsätze muß die gewerkschaftliche Tarifpolitik beherzigen. Erstens: Was immer an Verteilungsvolumen durchgesetzt werden kann, es muß christlich geteilt werden zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen. Und zweitens: Es muß wieder was durchgesetzt werden. Die Forderung nach mehr Lohn allein würde dem genausowenig gerecht wie das unbedingte Insistieren auf einen vollen Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung. Als Ziel ist der volle Lohnausgleich legitim. Aber in der Praxis wird auch eine offensive Tarifpolitik unter dieser Bedingung kaum nennenswert neue Arbeitsplätze schaffen können.

Egal, ob in Tagen, Wochen oder flexiblerweise aufs Jahr gerechnet – die Arbeitszeit muß in großen Schritten runter, damit ein Beschäftigungseffekt entsteht. In diesem Rahmen geht es um die Durchsetzung eines maximalen, möglichst sozial gestaffelten Lohnausgleichs. Vielleicht muß Gertrude Degenhardt rechts an ihrem Plakat noch ein bißchen anbauen, damit Platz ist für eine neue Vorhut mit einem Transparent, auf dem statt „32-Stunden-Woche“ auch stehen könnte: „Für das 1.400-Stunden-Jahr!“ Werner Sauerborn