: Graswurzel-Anarchie in der Kaiserstraße
■ Anarchistische Zeitung mit Schlußredaktion in Oldenburgs Kaiserstraße feiert 25. Jubiläum
Oldenburg. Im Treppenhaus weisen angestaubte Titelseiten der „Graswurzelrevolution“den Weg in die Redaktionsräume der ältesten Zeitung aus dem westdeutschen anarchistischen Spektrum. Neben mehreren Oldenburger Polit-Initiativen residiert die Zeitung im Haus Kaiserstraße 24.
Die Redaktion, das ist Andreas Speck, ein Mittdreißiger mit Vollbart und Korkenzieherlocken, der in einem Büro mit zwei PCs und Sperrholzmöbeln seit 1995 hier die „Graswurzelrevolution“schluß-redigiert. Speck ist Neu-Oldenburger, kommt aus der Kriegsdienst- und Totalverweigerer-Bewegung.
„Angefangen hat das Zeitungsprojekt im Sommer 1972“, erzählt er. „In Augsburg. Ein gutes Dutzend Leute, die meisten StudentInnen und solche, die es noch werden wollten, beschlossen, die Lücke zwischen bürgerlicher Presse und marxistischer Agitation zu schließen.“Sie alle waren Mitglieder der „Gewaltfreien Aktion Augsburg“und wollten mit der Zeitung über gewaltfreie Aktionen im In- und Ausland berichten und die theoretische Debatte über den Anarchismus weitertreiben.
Ohne Internet und e-mail hieß das Handarbeit. so wurden die ersten Nummern per Schreibmaschine getippt und mühevoll mit Schere und Kleber layoutet. Überschriften wurden auch schon mal per Hand gemalt.
Heute wird die „GWZ“mit moderner Technik produziert und vertrieben: Maus und Pagemaker haben Schere und Uhu abgelöst, die Artikel kommen via e-mail nach Oldenburg. Es existiert ein Vertriebsnetz von Büchertischen, Handverkauf bei Demos, linken Buchhandlungen und Kiosken.
Geblieben ist die dezentrale Struktur: Repro in Stuttgart, Vertrieb in Frankfurt, Endredaktion seit 1995 in Oldenburg.
Wie in ihren Anfängen arbeitet die „GWZ“weiterhin selbstverwaltet und kollektiv, weitgehend ehrenamtlich und, wie Andreas Speck bedauert, immer noch männerdominiert. Fest angestellt ist lediglich der Oldenburger, alle anderen 20 über die Republik verteilten RedakteurInnen und die anderen HelferInnen arbeiten aus purem Idealismus mit.
Neben den Schwerpunkten Antimilitarismus und Ökologie nahm die „GWR“andere Themen auf: Gentechnologie, die Debatte um nachhaltige Entwicklung und Ziviler Ungehorsam sind Stichworte 1997. Der Golfkrieg 1991 bescherte eine Rekordauflage von 5.000 Stück und eine Sondernummer mit 20.000 Exemplaren.
In Oldenburg landete die Redaktion nach Etappen über Göttingen, Hamburg, Heidelberg und Wendland eher zufällig. „Die im Wendland hatten keine Lust mehr“, sagt Andreas Speck, „und da es in Oldenburg mehrere gewaltfreie Aktionsgruppen gibt, die die Aufgaben übernehmen wollten, zog die GWR 1995 halt hier her“. Seitdem wird die GWR in der Kaiserstraße produziert. Mit 4.000 Exemplaren gehört sie zu den auflagenstärksten Blättern ihrer Art.
Zum 25jährigen Bestehen wollen die GraswurzlerInnen am Wochenende in Köln bei einem Treffen unter dem Motto „Anarchistischer Herbst 1997“ihre Geschichte Revue passieren lassen und die Herausforderungen und Antworten anarchistischer Bewegungen im Schatten der Jahrtausendwende diskutieren. Marco Klemmt
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