: "gn wt" - Der Weg ist das Ziel
■ Von spitzfindigen Hegelianern, geruhsamen Peripatetikern und ihrer Bewältigung der Differenz - eine Geschichte der studentischen Lauftypen von Milet bis zur Freien Universität
Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte der Wege. So hatten die alten Ägypter keine Vorstellung von Geschichtlichkeit, weil sich bei ihnen nichts bewegte. Wer jahrhundertelang reglos im gleichen geographischen und staatlichen Rahmen verharrt, von äußeren Einflüssen unbehelligt, der macht sich keine Vorstellung von Veränderung: „gn wt“ – mehr ist den Ägyptern zur Geschichte nicht eingefallen, als dieser erste undeutliche Laut zur Bezeichnung von alten Dingen.
Anders die Griechen, die sich immerhin im Kreis bewegten. Anaximander von Milet brachte im sechsten Jahrhundert vor Christus seine Idee vom zyklischen Lauf der Dinge auf den Weg.
Durch Reisen und Begegnungen mit anderen Kulturen (Hekataios' Reise nach Ägypten) kam Bewegung in die Philosophie. Als ein Kreis-Lauf erschien Platon und Aristoteles das Schicksal der Staaten, und auch im Stadion lief man ja rundum.
Das Kreuz der Zeitlichkeit aber kam erst mit dem Siegeslauf der Christen über uns. Mit Augustin und Hegel träumen wir noch heute von der Erlösung am Ende des Weges, von Sinn und Zweck unseres irdischen Daseins, das für viele zum Rennen nach Erfolg geworden ist.
Der Bildungsweg ist davon nur ein Abschnitt, denn er mündet gemeinhin in den Berufsweg, auch Karriere genannt, was im 17. Jahrhundert „gestreckter Galopp“ bedeutete. Selbst der abgeschlossene Student kommt also keineswegs zur Ruhe, im Gegenteil: Der beschwerliche Teil liegt noch vor ihm. Seinem Curriculum wird bloß die nächste Runde eingeläutet, die freilich auch den verlangsamten Gang zum Arbeitsamt einschließen kann.
Die Zielgerade des Berufslebens vor Augen, verhält sich der Mensch (hier: Student) unterschiedlich: Er sprintet in Regelstudienzeiten zum Examen (Hegelianer), oder er dreht endlose Aufwärmrunden (Aristoteliker/Peripatetiker), oder er bleibt einfach stehen und seufzt ägyptisch: „gn wt“.
Im Mikrokosmos der Freien Universität von Berlin lassen sich die studentischen Lauftypen deutlicher unterscheiden: Der Hegelianer hat schnell spitzgekriegt, daß es vom U-Bahnhof Thielplatz (letzter Wagen) bis zum Rostlaubeneingang (K-Gang) nur 552 Schritte sind, von Dahlem-Dorf dagegen 837. Er wird also in Zukunft, die er kaum erwarten kann, die Uni-Rennbahn entlang der Brümmerstraße benutzen. „gn wt“ hält er für eine Internet-Adresse.
Der Peripatetiker steigt ebenfalls Thielplatz aus, nimmt aber den beschaulichen Umweg über Landoltweg und meditiert dabei über etliche Topoi. Der Ägypter schließlich kauft sich erst mal am Kiosk eine Zeitung (Die Zeit) und setzt sich in den Park. Ihn interessiert die Schrittdifferenz zwischen den beiden U-Bahnhöfen nicht, denn er muß eigentlich sowieso nur zur Unibibliothek („559 Schritte bis zur Garderobe“, weiß der Hegelianer), um seine Bücher zu verlängern. Nur wenn er die Laufzeit der Leihfrist überschritten hat und Gebühren zahlen muß, dämmert es auch ihm, daß seit „gn wt“ viel Zeit den Nil hinabgeflossen ist. Georg Oppermann
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