: Wem die große Stunde schlägt
Die Abwesenheit der meisten großen Stars des Radsports läßt bei der Weltmeisterschaft in Spanien die Chancen der zweiten Garde steigen ■ Aus San Sebastián Joachim Quandt
Die Saison hätte so spektakulär enden können: Marco Pantani reißt gemeinsam mit dem spanischen Publikumsliebling, dem Tour-Fünften und Vuelta-Zweiten Fernando Escartin, aus, dicht gefolgt von der Spitzengruppe, in der Giro-Sieger Ivan Gotti dem Schönling Mario Cipollini den Sprintsieg zur Rad-WM anziehen will. Mittendrin Jan Ullrich und Erik Zabel, die auch noch ein kleines Wörtchen bei der Vergabe des Weltmeistertitels mitreden wollen.
Keiner der obengenannten Herren wird allerdings am Sonntag in San Sebastián an den Start gehen. Und sie sind nicht die einzigen. Daß der belgische Titelverteidiger Johan Museeuw trotz Krankheit – wenn auch unter Vorbehalt – zusagte, feiern die Veranstalter unter den genannten Umständen schon als Sensation. Im Gegenzug mußten sie allerdings prompt die Absage von Pavel Tonkow hinnehmen, der offensichtlich meint, daß er mit dem zweiten Platz beim Giro d'Italia, den er letztes Jahr sogar als Erster beendete, in dieser Saison schon genug gewonnen hat.
Ebenso geht es Jan Ullrich. Der große Tour-Triumphator muß nicht auch noch Weltmeister werden, und Team-Kollege Erik Zabel hat schon im März im Sattel gesessen und legt nach der langen Saison im Oktober ebenfalls lieber die Beine hoch. Zu dieser Zeit des Jahres sammeln die Profis Kraft für den Beginn der neuen Saison, denn im Radsport hat jeder Frühjahrsklassiker mehr Prestige als der Gewinn der Weltmeisterschaft.
Als sich San Sebastián vor einigen Jahren um die Ausrichtung dieser Weltmeisterschaft, die nun scheinbar niemand gewinnen will, bewarb, hatten die Veranstalter ursprünglich daran gedacht, dem fünfmaligen Toursieger Miguel Induráin mit dem Heimspiel im Baskenland einen glanzvollen Abschied zu geben. Induráin hat sein Sportgerät aber schon vor Jahresfrist in die Ecke gestellt und hilft statt dessen seinem zweijährigen Sohn (auch Miguel) aufs Dreirad.
Ebenso verhindert ist sein Nachfolger als Banesto-Kapitän, Abraham Olano. Teamchef José- Miguel Echávarri sagte zu Saisonbeginn für den Mann aus San Sebastián, der 1995 in Kolumbien den WM-Titel holte, daß er zwar nicht das Talent Induráins habe, diesen Mangel jedoch durch Arbeit und Ehrgeiz wettmache. Die Ärzte haben Olano nach dessen vorzeitigem Auscheiden bei der Spanien- Rundfahrt jedoch eine Zwangspause verordnet. Diagnose: die offenkundige Kraftlosigkeit bei Tour und Vuelta sei einer vollkommen verfehlten Trainings- und Saisonplanung geschuldet. Dringende Erholung ist geboten, und so wohnt der Baske dem Weltmeisterschaftsrennen, das buchstäblich vor seiner Haustür stattfindet, lediglich als Zaungast bei.
Auf der relativ leichten Strecke über 19 Runden und 256,5 km, die aus Gründen der Tourismuswerbung für den baskischen Nobelbadeort nur durch Stadtgebiete führt – das gibt bei der Fernsehübertragung so schöne Schwenks aus der Hubschrauberkamera –, scheint daher der Weg frei für die zweite Garde. Und für die Stars des Once- Teams, die schon bei der Spanien- Rundfahrt vor wenigen Wochen weitgehend unter sich waren. Der Haken an der Sache ist nur, daß sie bei der WM nicht vereint für die Sache ihres Arbeitgebers kämpfen, sondern gegeneinander in den unterschiedlichen Nationalmannschaften. Alex Zülle für die Schweiz, Melchor Mauri als Kapitän der spanischen Mannschaft und Laurent Jalabert für Frankreich. Dort findet sich letzterer mit Richard Virenque, dem Zweiten der Tour de France, und Luc Leblanc in einem Team wieder. Alle drei gelten als ebenso favorisiert wie untereinander zerstritten. Der in nationalen Kategorien denkende internationale Radsportverband UCI nimmt auf solcherlei private Abneigungen keine Rücksicht.
Zu allem Übel vergessen die Radprofis ausgerechnet dann, wenn es gilt, für das Vaterland in den Sattel zu steigen, gern, daß der Radsport weitgehend ein Mannschaftssport ist, in dem man nur gemeinsam stark ist. Bei der Vorjahres-WM in Lugano schnappte der Belgier Johan Museeuw den favorisierten Franzosen, Italienern und Schweizern den Titel weg, da diese nichts Besseres zu tun hatten, als ihre jeweiligen Teamkollegen zu belauern. Frei nach dem Motto: Besser es gewinnt einer von den anderen als ein Fahrer aus meiner Nationalmannschaft.
Einer, der in San Sebastián gern von dieser Konstellation profitieren würde, ist Udo Bölts. „Der ist immer noch super drauf“, sagt Teamkollege Christian Henn über den 31jährigen, der nach eigener Aussage „besonders motiviert“ ist, „mehr als vor jeder anderen Weltmeisterschaft“. Bei der Tour rackerte Bölts, der sich während des WM-Rennens an Museeuw orientieren will, für Ullrich und Riis, in Spanien hofft er, daß endlich auch mal seine Stunde schlägt. Bundestrainer Peter Weibel hält dies durchaus für möglich: „Udo sieht ganz stark aus. Er kann was machen.“
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