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Sie schaut hin, nicht weg

■ Gesichter der Großstadt: Jenny De La Torre hat nach der Wende ihren Job an der Charite verloren. Jetzt verleiht Ihr Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagemant als Obdachlosenärztin

Wenn die zierliche Peruanerin am Morgen die Türen ihrer Praxis öffnet, dann sieht sie viel von dem Elend, gegen das die Ärmsten der Stadt Tag für Tag aufs neue kämpfen. Jenny De La Torre residiert mit ihrer Obdachlosenambulanz im Untergeschoß des Hauptbahnhofs in Friedrichshain.

Offen und ehrlich nennt De La Torre ihre eigene Erfahrung mit der Arbeitslosigkeit als Motivation dafür über den Tellerrand der klinischen Betätigung hinüberzublicken und sich für Obdachlose zu engagieren: Nach der politischen Wende verlor die Ärztin ihren Job an der Charité. Seit dreieinhalb Jahren leitet sie nun die Praxis im Hauptbahnhof. Rund 12.500mal hat sie in dieser Zeit mit viel Leidenschaft und Engagement versucht, „ein Stückchen Normalität in einer außergewöhnlichen Situation anzubieten“, wie sie es nennt. Die 42jährige kann sich nicht mehr vorstellen, in den Alltag einer „normalen“ Praxis zurückzukehren, weil „man da nicht alles geben kann – nicht nur meine fachlichen, sondern meine menschlichen Kenntnisse, im Prinzip meine ganze Lebenserfahrung“.

Kaum jemand verliert sich früh morgens hier am Hauptbahnhof. Nur ein paar der Obdachlosen suchen zwischen Neonleuchten und Steinfußboden etwas Wärme. Aber sie suchen auch ein wenig menschliche Nähe, und die finden sie bei Jenny De La Torre. Ihr Wartezimmer ist die Straße, und die Realität auf der Straße hat viele Namen: Krankheit, Alkohol, Depression, Einsamkeit. Die Ärztin ist immer auch Therapeutin und Beistand. Sie schaut hin, nicht weg. Sie hört zu, nimmt in den Arm, hält Hände. Sie nimmt sich Zeit. Die meisten der fast 2.000 PatientInnen kommen zu ihr, weil sie auf sie zugeht, ihnen das Gefühl nimmt, immer nur Bittsteller zu sein.

Im Schloß Bellevue erhielt Jenny De La Torre am vergangenen Donnerstag von Bundespräsident Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz für ihr Engagement und ihren Einsatz. In ihrer täglichen Arbeit sind Anerkennung und Lob selten, vor allem von höchster Stelle. Und die ausgebildete Kinderchirurgin weiß, daß den großen Worten nicht immer große Taten folgen. „Es wäre blauäugig, zu erwarten, daß jetzt alles gut wird“, sagt sie realistisch, immer mit dem Blick auf die unsichere Zukunft ihrer Praxis. Im kommenden Jahr läuft die Finanzierung des Landes Berlin und des Arbeitsamtes für das gemeinnützige Unternehmen, das von der Ärztekammer getragen wird, aus. Auch weiß man nicht, ob die Räume im Hauptbahnhof auf absehbare Zeit zur Verfügung stehen werden. Und selbst die Ermächtigung durch die Kassenärztliche Vereinigung für eine Abrechnung ihrer Leistungen über die Krankenkassen ist bisher verweigert worden. So hofft De La Torre auf die Signalwirkung der Auszeichnung: darauf, daß die Leute endlich erkennen, daß mitten in all dem Elend ein Mensch steht, der einfach hilfsbedürftig ist.

Wenn De La Torre davon spricht, den Menschen nicht aus dem Bild zu drängen, dann steckt dahinter vor allem persönliche Erfahrung: Geboren und aufgewachsen in Peru, betont sie daß sie viel gesehen habe von der Not und der Armut in Lateinamerika. Von ihren Eltern habe sie gelernt, „mit dem Herzen zu sehen“. Schon früh fiel daher die Entscheidung, Ärztin zu werden. Die Ausbildung brachte sie schließlich in die DDR. Dem Medizinstudium in Leipzig folgten Facharztausbildung und Promotion in Berlin; und 1990 die Kündigung von seiten der Charité. De La Torre findet dort ihre Berufung, wo andere abwinken oder gar resignieren würden. Beruhigung, so sagt sie, sei das Gefühl, das Maximale herauszuholen. Streß mag es wohl geben aber „mit Frustration kann man nichts anfangen“, erklärt sie mit einem abwertenden Kopfschütteln. Enttäuscht und frustriert „in die Ecke gehen und heulen“ ist einfach nicht ihr Ding.

Träume hat Jenny De La Torre viele, unrealistische Utopien liegen ihr jedoch fern, dafür hat sie zuviel erlebt und gesehen. „Die Tatsache ist das, was jetzt ist, und da muß man was tun.“ Deswegen stellt sich ihr auch nicht die Frage, ob ihr Engagement in den Elendsvierteln Perus nicht viel dringender benötigt würde. „Ich meine, es ist egal, wo man hilft,“ sagt sie, „ein Mensch ist wertvoll, wie er ist“. Matthias Stausberg

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