■ Algerien ist ein Fall für die UN-Menschenrechtskommission: Schutzbehauptung: Souveränität
Je lauter die Stimmen werden, die eine internationale Einmischung in Algerien fordern, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen, um so mehr tobt Präsident Liamine Zéroual. Ob Protestnoten seitens der europäischen Länder, von UN-Generalsekretär Kofi Annan, dem Vatikan oder wie jetzt die Forderung vier bedeutender Menschenrechtsorganisationen nach einer Sondersitzung der UN-Menschenrechtskommission – der Ex-General und seine Regierung verwahren sich gegen „jedwede Einmischung in die inneren Angelegenheiten Algeriens, einem freien, souveränen Land“. Die Regierenden in Algier vergessen dabei, daß ein Staat, der Souveränität beansprucht, wenigstens einige Bedingungen erfüllen muß. Dazu gehört die Integrität seines Hoheitsgebietes und die Sicherheit der dort lebenden Menschen.
Beides trifft im Fall Algerien längst nicht mehr zu. Das Land zerfällt in verschiedene Zonen. Das nützliche, weil wirtschaftlich ausbeutbare Algerien wird gesichert. Dazu gehören die Erdöl- und Erdgasfelder in der Wüste und selbstverständlich die Hauptstadt Algier mit ihrem Verwaltungsapparat. Wer in eine dieser Hochsicherheitszonen im Süden des Landes kommen will, braucht ein Inlandsvisum, und auf dem Landweg kommt er nicht an. Denn zwischen den Sicherheitszonen liegt das unnütze Algerien. Dort überläßt das Militär den radikalen Islamisten das Feld. Massaker sind hier an der Tagesordnung. Dieses nicht brauchbare Algerien beginnt übrigens nicht irgendwo im Atlas, sondern am Stadtrand der Hauptstadt. Dort machen die Kriegsflüchtlinge und Opfer des wirtschaftlichen Niedergangs einmal mehr die bittere Erfahrung, daß die Regierung sie scheinbar nicht für schützenswerte Staatsbürger hält.
Menschenrechte und viel mehr noch deren systematische Verletzung können nicht die innere Angelegenheit eines Landes sein. Wer sich in dieser Frage einmischt, verletzt nicht die Souveränität eines Landes – er schützt vielmehr das höchste Gut, das die Moderne hervorgebracht hat. Wenn einst der internationale Boykott gegen das Apartheidregime in Südafrika ein gerechtes Anliegen war, wenn es richtig war, mit internationalen Truppen den ethnischen Säuberungen in Bosnien-Herzegowina Einhalt zu gebieten, warum soll es dann im Falle Algeriens – wo mittlerweile Schätzungen zufolge zwischen 80.000 und 120.000 Menschen ihr Leben verloren – nicht einmal für eine internationale Konferenz oder eine Sondersitzung der UN-Menschenrechtskommission reichen? Reiner Wandler
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