piwik no script img

Träume in Bonbonfarben

Enzos, Grécos und Freudenmädchen: Das französische Chanson erlebt eine Wiedergeburt. Dabei kommen Zuchtperlen jeglicher Färbung zum Vorschein. Man besinnt sich auf die musikalischen Muster der fünfziger und sechziger Jahre, allerdings leicht verschrillt  ■ Von Reinhard Krause

„Ja, die Beatles haben viel kaputtgemacht“, formulierte einmal ein Freund, der für seine geschliffenen Bonmots bekannt ist. Kurz darauf gab es Easy listening und das Phänomen, daß in der westlichen Welt von Japan bis Finnland vorbeatleske Unterhaltungsmusik plötzlich wieder massentauglich wurde. Nur in Frankreich gehen die musikalischen Uhren immer ein wenig anders. Zwar besinnt man sich auch dort seit einiger Zeit auf die musikalischen Muster der fünfziger und frühen sechziger Jahre, allerdings eher in Form eines Neoklassizismus denn als Easy listening neueren Typs.

Die ungekrönte Königin des neoklassischen Chansons ist eine Dame mit dem abstrusen Namen Enzo Enzo, die in Wirklichkeit Körin Ternovtseff heißt. 1995 wurde sie für ihr zweites Album mit dem Grand Prix der Akademie Charles Cros ausgezeichnet und zugleich zur besten Sängerin erklärt – höhere Weihen sind in Frankreich mit Chansons nicht zu erlangen. Mit Titeln wie „Juste quelqu'un de bien“ nahm sie den Trend des elegant swingenden Retrosounds vorweg, hatte aber auch noch letzte Spurenelemente von Funk und Rock im Repertoire. Mit ihrem dritten Album, „Oui“ (RCA/ BMG), hat Enzo Enzo vor kurzem so etwas wie den Klassiker der Neoklassik vorgelegt.

„Oui“ klingt, als habe diese Platte die letzten 35 Jahre ungehört im Safe der Plattenfirma gelegen; das unveröffentlicht gebliebene Juwel einer längst vergangenen Epoche. Die Chansons haben Stil und Schmiß, im Ton changieren sie zwischen (igitt!) manieristischer Kirmesmusik und der Filmmusik für „Maigret“. Enzo Enzo ist so etwas wie eine hellere, schnellere Gréco.

Doch das Beste: Selbst wer des Französischen nicht mächtig ist, glaubt der Sängerin kein Wort. Sie intoniert ihre nonchalanten kleinen Chansons nämlich mit solch traumwandlerischer Perfektion und Leichtigkeit, daß paradoxerweise der Effekt völliger Künstlichkeit entsteht. Ein französischer Kritiker brachte es auf den Punkt, diese Platte bestehe aus lauter Perlen, aber es seien alles Zuchtperlen.

Dazu paßt bestens, daß Enzo Enzo in ihren (teils selbstverfaßten) Texten vor grellen Absurditäten nicht zurückschreckt – wie beispielsweise einem zwar präfeministisch „witzigen“, aber nicht für fünf Pfennig ironischen Liebeslied an Juri Gagarin. Wo lebt diese Frau?

Mit ähnlicher Leichtigkeit, aber auf sehr viel ironischere Weise singt Valérie Lemercier, die im letzten Jahr mit ihrem Debütalbum überzeugte. Inzwischen hat die Schauspielerin, Sängerin und Regisseurin eine alte Komödie von Sacha Guitry neu verfilmt, „Quadrille“.

Szenenfotos zufolge ist der Film ein Traum in Bonbonfarben und Fiftieskostümen. Den Soundtrack dazu (Tricatel/BMG France) hat wiederum Valéries Partner Bertrand Burgalat geschrieben: 25 Miniaturen für Streichorchester, Bläser, Xylophon, Harfe und vor allem für Cembalo, wobei latente Miss-Marple-Assoziationen wohl durchaus beabsichtigt sind. Orchesterchef ist einmal mehr David Whitaker („Comic Strip“), der unter anderem die letzte Etienne- Daho-CD betreute.

Gewissermaßen als Zugabe, wohl auch als Kaufanreiz für Verächter von Instrumental-CDs, werden zwei dieser anmutigen Capriccios von Valérie Lemercier gesungen. Selten hat eine Singstimme charmanteren Witz ausgestrahlt als das klare, ein klein wenig säuerliche Organ von Miss Lemercier, die ihre Bühnenshows gern mit einem stummen Grotesktanz beginnt, „damit sich die Leute erst mal ein Bild von mir machen können“.

Gegen diese beiden neuen Größen des Chansons haben es andere NewcomerInnen schwer. Trotzdem zu erwähnen sind zwei neue Import-Starlets: Nach Elli Medeiros (Uruguay) und der Katalanin Cathy Claret setzen Mercedes Audras aus Argentinien und die Franko-Ungarin Clarika die Reihe fremdstämmiger Chansonsängerinnen fort. Von diesen Wurzeln (Steak! Gulasch!) ist allerdings nicht viel übriggeblieben.

Clarika läßt sich am ehesten als Verlängerung der Linie frühe France Gall/Lio verorten, Typ flotte Mademoiselle und falsche Naive. Solange sie den jugendlichen Erfahrungsraum nicht verläßt und sich auf Gute-Laune- Schlager mit kleinen Widerborstigkeiten konzentriert, besitzt sie zickigen Charme. Da ist von hübschen Jungs ohne Grips die Rede, von Nordafrika-Urlaub im eigenen Schlafzimmer, von einem aus Langeweile leergefutterten Kühlschrank oder der Überlegung, einen Laden mit Kitsch-Eiffeltürmen zu eröffnen.

Alle Duftigkeit gerinnt jedoch zu Uralt-Lavendel bei Clarikas diversen nostalgischen Chansons über alte und vereinsamte Mitmenschen. Erstaunlich, daß dieses Gemenge aus wohlmeinendem Sozialkitsch und selbstherrlich zementierter Opferrolle im Chanson eine derart zähe Tradition besitzt.

Künstlerisch betreut wurde Clarika von Dominique Blanc-Francard, dem Toningenieur der späten Gainsbourg- und Jane-Birkin- Alben. Das namenlose Debütalbum ihrer Kollegin Mercedes Audras wiederum (Le village vert/ Sony France) wurde zur Hälfte von Philippe Katerine coproduziert, was ein wenig erstaunt, denn Katerine war mit seinem Album „Mes mauvaises fréquentations“ neben Enzo Enzo bislang der zweite Star der französischen Retro-Welle. Hier hält er sich mit Vibraphon und ähnlichem Party-Equipment der Dujardin-Ära zurück und vertraut ganz auf die elementare Kraft der Schlaggitarre.

Audras selbst sieht überhaupt nicht nach südamerikanischem Feuer aus und gibt sich auch keinen Illusionen hin, so zu klingen. Lieber liebt und leidet sie in ihren Songs auf französisch, spanisch und englisch entspannt vor sich hin, was ihr prompt Vergleiche mit Françoise Hardy eingebracht hat. Tatsächlich könnte sich ihre Fassung von Nicos „The Fairest of the Seasons“ auch auf Hardys 72er Späthippy-Manifest „If you listen“ finden, aber das liegt womöglich vor allem an Mercedes' besonderem Englisch. Ihre eigenen Titel sind weniger epigonal, haben aber den Hang, in ländliche Beschaulichkeit zu kippen. An ihrer Lethargie wird sie noch ein wenig feilen müssen. Gib Gas, Mercedes!

Ähnliches muß sich auch Monsieur Katerine gesagt haben, als er in London eine englisch-japanische Girlgroup namens Lucky 15 sah und eilends beschloß, den Sängerinnen Lisa und Yoshiko ein rasantes kleines Album maßzuschneidern. Nachdem in den letzten 15 Jahren ganze Scharen singender Japanerinnen von der reizenden Miharu Koshi über Kazuko Hohki von den Frank Chickens bis zu Maki Nomiya von Pizzicato Five französische Sixties- Knaller zu Nipponpop verarbeitet haben, wartet Katerine gar nicht erst ab, bis auch er von frühreifen Japanerinnen gecovert wird. Er läßt sie gleich die Originale singen: „Les s÷urs Winchester chantent Katerine“ (Rosebud/Barclay).

Für die S÷urs Winchester hat Katerine den reinen Frühsixties- Kosmos seiner eigenen Alben verlassen und sich in die Welt des psychedelischen Beats und Souls der zweiten Hälfte der sechziger Jahre vorgearbeitet. Das Ergebnis klingt indes mehr nach wildgewordenen Pizzicato Five als nach dem klassischen Gainsbourg/ Whitaker Beat der „Initials B.B.“- und „Docteur Jekyll et Monsieur Hyde“-Phase. Schon komisch: eine Japanerin und eine Engländerin singen französisch inspirierten Japan-Pop aus Frankreich.

Ein solches Projekt lebt natürlich vom heiteren Umgang mit Klischees. Hinzu kommt Philippe Katerines Gabe, reizende Kinderlieder zu schreiben, die eher dem Spieltrieb als einem Mitteilungsdrang entspringen. Wer Katerine einmal als schüchternen, fast verschämten Entertainer auf der Bühne erlebt hat, wird sich über die Wucht amüsieren, mit der er die kessen Winchester-Schwestern zwischen falscher Bravheit und ebenso falschem Angebertum agieren läßt. „Ich seh' aus wie ein Freudenmädchen“, quietschen die beiden vergnügt, „aber ich bin nur Papis verzogener Liebling.“

Als solche Mischwesen knallen sie schon mal einen anspruchsvollen Freier ab (mit einer Winchester, logisch!), maulen über Pariser Lustgreise in Hush Puppies oder fragen geziert: „Wie kann man Godard hören, ohne Baudrillard zu denken?“ Das Pulver hat Philippe Katerine für die Winchesters nicht neu erfunden, aber nach diesem Bäng-Bäng-Pop darf man auf die neuen musikalischen Horizonte gespannt sein, die er bereits in Aussicht gestellt hat. Ein Album mit Jean-Claude Vannier, dem Kaiser des frühsiebziger Streichersatzes?

Einstweilen haben Pizzicato Five eine Single mit der amerikanischen Sängerin April March angekündigt. Die hatte – jetzt wundert gar nichts mehr – im letzten Jahr ein Mini-Album mit Gainsbourg- Songs eingespielt. Und wem die Mancini-Samples auf „Sacrebleu“, der ersten Dimitri-from-Paris-CD, gefallen haben, der sollte auch an der Single „Latitudes“ des DJ-Projektes „Ollano“ (Rosebud/Barclay) nicht achtlos vorübergehen. Gesungen wird dieser Titel von Hélena, der „kleinen“ Schwester von Lio, deren Karriere unter dem Namen LNA Noguerra nach einer netten Single („Lunettes noires“, 1988) etwas sandig verlief.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen