: Verlorenes, Verworfenes
Bücher, die nie erschienen: Eine Ausstellung und ein Magazin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach untersuchen die Leerstellen der Literaturgeschichte ■ Von Michael Bienert
Es ist ein verbreiteter Irrtum zu glauben, Literatur sei, was im Buche steht. Bücher sind nur das Haltbarste an einem Prozeß, der im Kopf des Autors beginnt und die Gedanken, Träume, manchmal sogar das Verhalten des Lesers ändert. Wie gering der Anteil des Gedruckten an der Literatur ist, wird einem schockhaft bewußt, wenn man zum ersten Mal im Handschriftenkatalog des Deutschen Literaturarchivs in Marbach blättert. Bei den meisten Autoren ist die Menge des Ungedruckten ungleich größer als die des Gedruckten, erst recht, wenn man all die verlorenen und verworfenen Vorfassungen, Manuskripte, Korrespondenzen überschlägt.
Ohne sie gäbe es die gedruckten Werke nicht. Und daß ein Autor von Rang schon zu Lebzeiten die Buchwerdung seiner Schriften erlebt, kommt eher selten vor. Man denke nur an Büchner oder Kafka, die ihre Wirkung aus dem Nachlaß entfalteten. Besonders die von großen Autoren geplanten Hauptwerke gelangen in der Regel verspätet, fragmentarisch, postum oder eben gar nicht auf den Buchmarkt. Wenn sie ausnahmsweise mal pünktlich zum angekündigten Termin erscheinen, wirkt ihre Vollendung nicht selten erzwungen, und der Leser wünscht sich, der Autor wäre beim Fragmentarischen geblieben...
Für das Scheitern der Schriftsteller an ihren selbstgestellten Aufgaben gibt es tausendundeinen Grund. Schwierigkeiten mit Verlagen, Selbstüberschätzung, Schreibblockaden, der Druck der Zensur, politische Wetterwechsel, materielle Notlagen zählen zu den häufigsten. Eine kleine, aber feine und hochkarätig mit Originalmanuskripten bestückte Ausstellung des Marbacher Archivs blättert nun die Facetten dieses Themas in 37 Fallbeispielen auf. Ihr Titel „Ankündigungen oder ,Mehr nicht erschienen‘“ zitiert ein vor 40 Jahren zusammengestelltes „Verzeichnis der unvollendeten Druckwerke“ mit 24.000 Nachweisen. Die Geschichtsschreibung des Ungedruckten reicht freilich viel weiter zurück. Schon im Jahre 1688 erschien in der holländischen Käsestadt Gouda ein Buch mit dem Titel „Bibliotheca promissa et latens“, ein Verzeichnis von Büchern, die wegen des vorzeitigen Hinscheidens ihrer gelehrten Verfasser nicht in den Druck gelangt waren.
Die Ausstellung beginnt mit der schier unglaublichen Geschichte von Schellings Hauptwerk „Die Weltalter“, dessen Nichterscheinen über einen Zeitraum von 20 Jahren dem Ansehen des Autors so wenig geschadet hat wie in jüngerer Zeit das Ausbleiben eines neuen Romans dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen. Beide schröpften ihre langmütigen Verleger und steigerten die Neugier des Lesepublikums ins Unermeßliche. Schellings Gegner ließen schließlich dessen Vorlesungen mitschreiben und drucken, um seine Philosophie zu entzaubern. Die Klage des Berliner Professors gegen die Urheberrechtsverletzung wurde abgewiesen. Daraufhin verzichtete Schelling auf seine venia legendi: Wenn die preußische Regierung „nicht im Stande sei, ihn gegen Nachdruck zu schützen, so sei er nicht im Stande zu lesen“.
Nur eine kuriose Geschichte? Nein, es scheint kaum ein Buch zu geben, an dessen (Nicht-)Zustandekommen sich keine Denkwürdigkeit knüpft.
Es gehört zu den Vorzügen der Ausstellung, daß sie überraschende Korrespondenzen über die Literaturepochen hinweg sichtbar macht. In der Schelling-Vitrine findet sich auch die postume Ankündigung von Benjamins „Passagen-Werk“, dem ein ähnliches Schicksal beschieden war wie den „Weltaltern“. Die Fortsetzung von Schillers Roman „Der Geisterseher“ kam sowenig zustande wie der zweite und dritte Band von Thomas Manns „Felix Krull“. Von Canettis geplantem achtbändigen Romanprojekt erschien nur „Die Blendung“. Als Robert Musil die Unvollendbarkeit von „Der Mann ohne Eigenschaften“ immer deutlicher vor Augen trat, stellte er seinen „Nachlaß zu Lebzeiten“ zusammen.
„Wie wenig ändern sich in 200 Jahren die Arbeitsverhältnisse der Schriftsteller!“ hat der pfiffige Kurator und Katalogautor Friedrich Pfäfflin an den Rand einer Ausstellungsvitrine geschrieben. Dezent hat er sich selbst in die hochkarätige Galerie säumiger Textlieferanten eingereiht. Zwischen all den Kostbarkeiten findet sich der Umschlag eines von ihm zusammengestellten Bändchens über Karl Kraus, das seit der Verlagsankündigung vor drei Jahren auf sich warten läßt.
Fast wäre auch die Ausstellung eine bloße Idee geblieben, lange angekündigt und dann doch nicht realisiert. Sie ist der fünfte Teil der Reihe „Vom Schreiben“, die von den materiellen Hilfsmitteln der Schriftsteller ausging – dem weißen Blatt, Schreibwerkzeugen, Schreibstimulanzien und Schreiborten –, um tiefe Blicke in die Technik und Psychologie des literarischen Schaffens zu ermöglichen. Vor der heiklen Aufgabe, nunmehr die unverwirklichten Träume, Projekte, Visionen in den „Marbacher Schneewittchensärgen“ auszustellen, wollte auch der versierte Kurator Pfäfflin öfters kapitulieren.
Bei der Eröffnung gab er zu verstehen, daß das schwierige Thema ihn bei seiner Suche nach einer „neuen Ausstellungssprache“ nicht unbedingt vorangebracht habe. Tatsächlich fehlt der Ausstellung eine zündende Gestaltungsidee. Sie glänzt durch Bescheidenheit und sicheres Gespür bei der Auswahl der Exponate. Doch wirkt sie eher wie eine Beigabe zu dem ausstellungsbegleitenden Magazin, in dem all die spannenden Geschichten zu den Ausstellungsstücken nachzulesen sind. Wahrscheinlich muß das so sein, denn nur das Gedruckte löst ein, was die Schöpfer der ausgestellten Objekte sich am dringlichsten wünschten: Buch zu werden.
„Vom Schreiben 5: Ankündigungen oder ,Mehr nicht erschienen‘“. Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum, 71672 Marbach am Neckar, Schillerhöhe 8-10, geöffnet täglich 9 bis 17 Uhr, bis 30. November. Anschließend im Literaturhaus Berlin. Ein Katalog ist als „Marbacher Magazin“ Nr. 80/1997 erschienen. 176 Seiten, 15 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen