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„Das könnten auch bezahlte Kräfte“

■ Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, über Industriegesellschaft und die mentalen Probleme der Deutschen

taz: Herr Miegel, gibt es hier zu wenige Arbeitsplätze im Bereich der sozialen Dienstleistungen?

Meinhard Miegel: Wir haben noch immer eine verhältnismäßig intakte Hauswirtschaft. 86 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden in den privaten Haushalten gepflegt. Die Mehrheit der Bevölkerung erzieht ihre Kinder auch selbst, bereitet ihnen jeden Morgen das Frühstück. Wenn viele Leute dazu keine Lust oder Zeit mehr haben, wird es neue Jobs in den sozialen Diensten geben.

Der Zerfall der traditionellen Familie als Chance für die Dienstleistungsgesellschaft?

Das kann man so formulieren. Heute herrscht in Deutschland dagegen die Do-it-yourself-Kultur. Das sehen Sie schon an der großen Zahl der Baumärkte. Die personenbezogenen kleinen Dienste, die in den USA über den Markt abgewickelt werden, sind bei uns noch im Privathaushalt angesiedelt, in Eigen- und Schwarzarbeit, und in der Schattenwirtschaft.

Es gibt Kinder- und Schülerläden, Horte, Hausaufgabenhilfen. Wo sollen bei der Kindererziehung neue Arbeitsplätze entstehen?

Die Ganztagsbetreuung der Kinder in der DDR wurde abgewickelt, was viele Leute in Ostdeutschland sehr bedauern. Auch im Westen existieren nicht genug Ganztagsschulen. Ein erwachsenes Familienmitglied muß mittags immer die Kinder in Empfang nehmen. Das könnten auch bezahlte Arbeitskräfte machen.

LehrerInnen verdienen recht gut. Wer soll das bezahlen?

Es müssen ja nicht hochqualifizierte Lehrer sein. Betreuer tun's auch. Die sind billiger.

Neue Stellen in den sozialen Dienstleistungen sind mit niedrigeren Löhnen zu erkaufen?

Ja, das muß man mit großer Klarheit sehen. Alle Länder, die eine derartige Beschäftigungspolitik erfolgreich betreiben – neben den USA auch Neuseeland, Kanada, Australien und teilweise Großbritannien –, verzeichnen einen sinkenden Lebensstandard einiger Millionen Menschen. In den USA liegt der harte Kern der Absteiger bei 25 Prozent der Bevölkerung. Durch die Absenkung ihres Lohnes werden sie nicht arbeitslos oder finden nach kurzer Zeit wieder eine Stelle.

Was soll die Bundesregierung tun?

Sie muß Initiativen ergreifen, um die Lohnnebenkosten zu senken. Außerdem wird der Zugang zu neuen Jobs mit allerlei Regulierungen, Gesetzen und Verordnungen erschwert. Eine Frau, die Kindern Geschichten vorliest, braucht keine staatliche Erzieherinnenausbildung.

Warum werden die einfachen Dienste bislang zu wenig gefördert?

Hier gibt es zwei große Barrieren. Erstens: Die niedrigen Einkommen werden, anders als in den USA, von der Bevölkerung hierzulande noch nicht akzeptiert. Der Staat erteilt deshalb Sondergenehmigungen für Wanderarbeiter von außerhalb der EU. 1996 kamen 920.000 Arbeitskräfte, um hier schlecht bezahlte Dienste zu erbringen. Polen pflücken im Oderbruch Gurken für fünf Mark pro Stunde. Zweitens: Die Bevölkerung hat mentale Probleme, andere Menschen ihren Dreck wegmachen zu lassen – nach dem Motto, ich will anderen keine Arbeit zumuten, die mir selbst lästig ist.

Besteht überhaupt eine Hoffnung, daß die Dienstleistungen die Arbeitsplatzverluste der Industrie ausgleichen können?

In den USA hat es bis heute geklappt. Dort waren 1996 rund acht Millionen Stellen mehr vorhanden als 1991. Aber die dortige Situation stellt auch eine Besonderheit dar, weil die Zahl der Industriearbeitsplätze kaum gesunken ist.

Und in den anderen Industriestaaten?

In allen anderen Ländern konnten die Dienstleistungen den industriellen Jobverlust nicht ausgleichen – schon gar nicht in Deutschland.

Wann könnten in der Bundesrepublik mehr neue Jobs entstehen, als die Fabrikkonzerne vernichten?

Wenn der kulturelle Wandel bald einsetzt, vielleicht in fünf bis zehn Jahren.

Professor Meinhard Miegel (58) ist langjähriger Berater des heutigen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU) und arbeitet im Auftrag der Länder Sachsen und Bayern gegenwärtig an einem Zukunftsentwurf zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit.

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