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Zurück heißt noch nicht angekommen

Eine bosnische Familie kehrt nach Sarajevo zurück  ■ Von Christian Litz (Text) und Thomas Klink (Fotos)

Erdin Srmić schaut nach oben an die Hänge und sieht satt-grüne Wälder. Die Sonne scheint. Erdin atmet durch, paßt dabei nicht auf und lenkt seinen Daimler mitten durch eines der von Granaten gerissenen Löchern auf Sarajevos Hauptverkehrsstraße Marsala Tita. Bei der Fahrt vorbei an schwarzgerußten Hochhausgerippen, zerbombten Häusern, mit Einschußlöchern gespickten Wänden und Parks voll rot-gelber Minenwarnschilder, hält Erdin Srmić das Steuer so fest, daß seine Fingerknöchel weiß werden. „Die vielen UN-Soldaten auf den Straßen, die geben mir ein Gefühl von Sicherheit.“ Alles in Ordnung also: Der Krieg ist aus, nach fünf Jahren in der Fremde kommt die Familie Srmić nach Hause. Zlatan (14), Denin (19), Mutter Zarfa (49) und Vater Erdin (50), zurück aus Grömbach bei Freudenstadt im Schwarzwald.

Dort, Sonntag morgens um fünf, als sie die beiden Autos vollpackten, sprachen die Söhne bosnisch. „Redet doch deutsch!“ sagte Vater Erdin. Er wäre „natürlich sehr gern“ in Deutschland geblieben. „Schönes Land.“ Aber er ginge voll Freude zurück. Bei einer Rast vor der kroatischen Grenze sagt er beiläufig, er habe eine Einspruchsfrist verpaßt: Ein Behördengang nur und sie hätten die Chance gehabt, länger zu bleiben. Später erzählt er von der großen verpaßten Chance seines Lebens. Er war von 1970 bis 1976 in Frankfurt, arbeitete als technischer Zeichner bei Hochtief, hatte eine deutsche Freundin, ein Auto. Als er entlassen wurde, bekam er eine kleine Abfindung und fuhr zurück nach Sarajevo. „Ich war dumm. Wäre ich geblieben, hätte ich meine Aufenthaltsgenehmigung nicht verloren. Wäre heute wahrscheinlich Deutscher.“ Aber er fuhr mit seinem knallroten Peugeot in Sarajevo ein. Hatte D-Mark und allerlei Luxusgüter und somit den großen Auftritt im sozialistischen Jugoslawien.

Seine zweite Rückkehr ist kein Triumphzug: Die Wohnung der Familie am Nordrand Sarajevos, fünf Jahre in der Schußlinie von Heckenschützen, ist kaputt. Auf seinem Arbeitsplatz bei Architect, der größten Baufirma in der Hauptstadt Bosniens, sitzt ein anderer. Die Möbel, aus Deutschland vorausgeschickt, stehen in einem verplombten Laster am Zollhof, und der Zöllner wird mindestens einen Hundertmarkschein kassieren, ehe er sie rausrückt.

Am zweiten Tag sitzt das Familienoberhaupt am Küchentisch der Wohnung, die seiner Schwester gehört – sie hat einen deutschen Paß, lebt in Köln und hat die Wohnung der Familie überlassen. Erdin Srmić schwitzt, er setzt seine Schirmmütze ab. Das ist von Bedeutung, denn mit ihr, den grauen Koteletten und der Mähne am Hinterkopf kann er eine Glatze tarnen. Tagelang bemühte er sich um den Schein, jetzt ist es ihm egal.

Er fährt mit seinen Händen über den Schädel: „Wir Rückkehrer werden ausgenommen. Falsch parken und du hast einen Strafzettel, nur weil du eine deutsche Nummer hast.“ An diesem Abend wollte die Familie eigentlich zum Essen ausgehen, aber Erdin hat es sich anders überlegt. Warum? Er kann es nicht erklären. Beim fünften Versuch sagt er: „Gäbe doch nur Strafzettel.“ Bisher gab es keinen.

Inzwischen sind drei Tage vergangen, die Möbel stehen in der Wohnung. Zeit genug, eine heimische Autonummer zu besorgen. Doch Erdin verschiebt den Gang zum Amt auf den nächsten Tag. Dann verschiebt er ihn wieder. Erdin bewegt sich zwar, doch in seinem Inneren ist Stillstand.

Das Geld geht zur Neige. 1.700 Mark Rückkehrhilfe hatte die Familie in Deutschland bekommen, dazu hatte sie etwas gespart. 1.300 Mark kostete der Transport der Möbel, dazu 100 Mark Bestechung für den Zöllner, viermal tanken auf dem Weg nach Sarajevo, und das Leben dort ist so teuer wie in Deutschland.

Bisher hat Erdin über die Zigarettenmarke Drina gelästert und seine mitgebrachten Dunhills geraucht. Die gibt es hier auch. Aber ab heute rauchen sie Drina für eine Mark die Packung.

Gestern erst hat Erdin noch gesagt: „Das Zeug werde ich nie rauchen!“ Seine Frau zündete da gerade die erste Drina an und lächelte. Sie wußte, was passieren würde. Zarfa mit dem hageren Gesicht und den gebleichten Haaren redet wenig, aber es ist offensichtlich: Die Frau ist der Motor hier. Ohne sie wird das nichts mit der Familie in Sarajevo. Sie war es, die im Krieg beschloß, die Familie müsse raus aus Sarajevo, sie lieh das Geld für die Flucht, sie organisierte die Rückkehr.

Die Familie spaltet sich, die Nerven sind gespannt, der Ton am großen Tisch wird lauter und rauher. Mutter Zarfa und Sohn Denin haben noch Biß. Denin geht abends aus, trinkt, Muslim hin oder her, ein Bier, schaut sich um und staunt: „Das war früher anders, da war ein Haus, das war früher keine Einbahnstraße, die Disko gab es früher nicht.“ Denin ist neugierig, bereit für Neues. Er lacht ab und zu, schaut den Mädchen hinterher. Redet wenig von Deutschland. Sagt anerkennend: „Ganz schön was los hier.“ Es stört ihn nicht, wenn er sich verfährt. Fremde Straßen, neue Aussichten, neue Möglichkeiten. Kein Problem für Denin. Wenn er im Auto durch die Stadt fährt, kurvt er slalommäßig um die Granatlöcher im Asphalt, als wäre es ein Sport. Das macht Spaß, das ist eine Herausforderung. – Sein Vater dagegen beschimpft die Straßen Bosniens, die Serben, die sie zerstört haben, die Behörden, die sie nicht verbessern, und lobt die Straßen in Deutschland. Schimpft auf die Deutschen, die ihn, den Kriegsflüchtling, weggeschickt haben.

Zarfa versucht, ihren Mann anzutreiben. Sie richtet die Wohnung ein und spricht geduldig auf ihn ein. Er sitzt auf der Couch, rührt keinen Finger. Sie drängt so lange, bis Erdin „na gut“ brummt, sich

erhebt und die Waschmaschine anschließt. Einmal redet sie ihrem Mann besonders lange zu, akzeptiert kein Nein und hat ihn nach Stunden soweit, daß er sich mühsam aufrichtet und den Autoschlüssel schnappt, um endlich mit der Familie zu Freunden zu fahren, die sie zuletzt vor dem Krieg sahen. Meist sitzt Erdin am Küchentisch und ist unzufrieden. Er schimpft, das Haus habe keine Briefkästen. Am nächsten Abend findet er sie jedoch in einem versteckten Winkel und schimpft ab sofort, weil das Licht im Treppenhaus nicht geht. „Jetzt muß man sich an all die Scheiße hier gewöhnen.“

Zlatan, der jüngste, meckert, weil nur drei TV-Programme zu empfangen sind, bosnische dazu. Kein MTV, kein Viva, kein Eurosport. Und der mitgebrachte Riesenfernseher stehe doch vollkommen unnütz rum. Meckern, weil es zu der Wohnung im fünften Stock keinen Aufzug gibt. Weil das Telefon noch nicht angeschlossen ist. Er würde Freunde in Grömbach anrufen. „Meine Heimat, da sind meine Freunde.“ Sagt er trotzig und heftet Poster um Poster an die weiße Wand seines Zimmers. Fünf zeigen Heavy-Metal-Bands, die von Todessehnsucht und lebenden Leichen singen. Ein Dutzend Poster präsentiert die Mannschaft von Bayern München oder Porträts der Spieler. Auf jedes hat Zlatan mit schwarzem Filzer geschrieben: „Deutscher Meister!!!“ Das Wort „Deutsch“ unterstrichen.

Heimweh nach Deutschland

Die Fensterscheiben seines Zimmers haben zwei Schußlöcher: jeweils mit einem drei Zentimeter Radius als Mittelpunkt eines Riß-Spinnennetzes. Außen kleben Plastikfolien mit dem UNO-Aufdruck, der viele kaputte Fenster in Sarajevo ziert. Blickt Zlatan raus, sieht er ein ausgebranntes, zertrümmertes Auto auf der Seite liegend auf einem Rasen. Zlatan will zurück. Ein Jahr Schule noch, dann hätte er einen Hauptschulabschluß gehabt. In Sarajevo geht er so gut wie nie vor die Tür, macht lange Mittagsschläfchen, schaut Videos an, sitzt mit dem Walkman träge herum. In Grömbach wäre er jetzt bei Dragan und anderen Freunden. Unten im Hof spielen Jungs Basketball und setzen sich für die zuschauenden Mädchen in Szene. Zlatan will nicht runter. „Rückkehrer sind nicht so beliebt, werden nur dumm angemacht“, sagt er. Drei Tage hier und nicht eine Begegnung mit Gleichaltrigen. Manchmal sagt er mitten in die stille Wohnung: „Scheiße!“ Einmal rafft er sich auf und verkündet: „Ich werde zurückgehen.“

Die Wohnung der Schwester ist hübsch. Drei Zimmer, Balkon, hell, Parkettboden. Die Wohnung in Grömbach, unter einem Kindergarten, war ein Loch, früher „Naßräume“ einer Schule: Klos und Duschen. Zwei Zimmer, halb so groß wie die Wohnung in Sarajevo, dunkel, dreckig, rostig, mit Sperrmüll eingerichtet. An Wänden und Decken Leitungsrohre.

Mutter Zarfa, die im Schwarzwald von Heimweh geplagt wurde und Radio Sarajevo über Langwelle hörte, war die einzige, die wirklich zurück wollte. In Sarajevo verbirgt sie ab und zu ihr hageres Gesicht in den Händen und sitzt so minutenlang. Ihr Mann reagiert nie. Stille am Tisch.

Die Jungs reden nur noch deutsch, und in einem Moment der Spannung blafft Zlatan seinen Vater an: „Sprich deutsch mit mir, Mann!“ Selbst die stille Zarfa legt auf einmal in der fremden Sprache los, erzählt ohne Pause von der Flucht vor fünf Jahren. Als die ersten Schüsse ihre Wohnung trafen und Granatsplitter Löcher in die Mauer rissen, entschied sie, mit der Familie in ihren Heimatort nahe Tuzla zu ziehen. „Da haben wir auch drei Wochen Krieg erlebt, und uns wurde klar, das sind nicht nur ein paar besoffene Leute.“ Also ging es zurück nach Sarajevo, in die Wohnung der Schwester.

Nach drei Wochen entdeckte Erdin vom Balkon aus den Scharfschützen auf dem Baukran etwa 300 Meter entfernt. Er erkannte das Fernrohr am Gewehr, er hörte die Schüsse und splitterndes Glas. Der Kran steht noch. „Eine Woche lang hatten wir alle zwei bis drei Minuten eine Granate zischen gehört. Die Granaten hatten viele Farben und verschiedene Töne, aber ich konnte die nicht auseinanderhalten. Bei jeder dachte ich, die trifft uns. In dieser Wohnung war nur noch Angst. Kein Wort, kein Licht, nur Angst.“ Immer öfter wurde auf das nahe Krankenhaus geschossen, einige Granaten trafen die Neubausiedlung. Zarfa entschied: „Wir gehen!“

Die Familie floh im April mit Zarfas 19jähriger Cousine und deren Säugling, ließ alles zurück, gab ihr letztes, teilweise geliehenes Geld für Bustickets aus, mußte alle paar Stunden umsteigen, an der slowenischen Grenze einen halben Tag warten, wurde in Stuttgart abgesetzt, obwohl sie bis Frankfurt bezahlt hatte. „Es war kalt, es regnete, wir waren hungrig, schmutzig, hatten nicht genug geschlafen. Zlatan war neun, er sagte immer: ,Hunger‘.“

Erdin verlor bei der Flucht die Ausweise und Zeugnisse. „Gestohlen“, sagt er. Als er kurz rausgeht, sagt seine Frau: „Er hat die Tasche beim Umsteigen im Bus vergessen.“ Die Familie kam in ein Heim in Karlsruhe, dann in eine Unterkunft in Hutzenbach bei Beiersbronn. Alle zwei Wochen gab es 70 Mark für die vier.

Nach vierzig Tagen kamen sie nach Grömbach. Einen Monat lebten sie bei einer deutschen Familie, zehn Monate im Wohncontainer, dann in den Räumen unter dem Kindergarten. Erdin hatte Arbeit, die Jungs kamen in die Schule. Zafra litt. „Ich war allein in der Wohnung. Ich habe mir gedacht, ich will heim. Das ist meine Heimat. Nicht Deutschland.“ Einmal, ihr Mann schläft auf der Couch, flüstert sie: „Er war früher anders, aber Krieg, Flucht, Angst ... haben das aus ihm gemacht.

Drei Wochen später: Denin ist verliebt. Er hat ihre Telefonnummer, übermorgen gehen sie zusammen aus. Alles andere ist jetzt nicht mehr wichtig. Vater Erdin hat eine Satellitenschüssel gekauft und auf dem Balkon angebracht: 36 Programme, fast alles deutsche, können sie jetzt schauen.

Doch Zlatan hat inzwischen anderes zu tun. Er sagt zwar immer noch: „Nächstes Jahr gehe ich zurück nach Deutschland“, aber er geht jetzt aus in Sarajevo, kommt nachts um drei heim. Morgens steht er früh auf, um Verwandte zu besuchen. Beide Jungs werden bald wieder zur Schule gehen. Zarfa könnte als Verkäuferin arbeiten. 70 Mark im Monat für acht Stunden am Tag. Erdin meckert: „Das haben wir nicht nötig.“ An den Autos sind noch deutsche Nummernschilder, trotzdem gab es bisher keinen der hysterisch gefürchteten Strafzettel. Dennoch jammert Erdin: „Das ist kein Leben hier, nur Betrüger, immer aufpassen, du kannst keinem trauen, und Arbeit gibt es auch keine.“

In zwei Jahren bekomme er aus Deutschland vermögenswirksame Leistungen, Geld, das er in den siebziger Jahren eingezahlt hat, samt Zinsen, meint Erdin. „Bis dahin müssen wir durchhalten.“ Und zündet sich eine Drina an.

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