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Weltweiter Werteverfall! Jetzt zugreifen!

■ Die Börsen beben: Hongkong erschüttert die Wall Street, und die schickt Schockwellen um den Globus. Die Kurse stürzen mancherorts um bis zu 15 Prozent, doch die Wirtschaft bleibt ungerührt. New York, gestern abend: Die Kurse steigen schon wieder

Was für ein Tag für die Börsianer. Weltweit konnten sie gestern abend mit rauher Stimme und glänzenden Augen ihren Lieben erklären, wie sie den schwarzen Dienstag noch einmal ganz knapp vermieden haben und wieviel Milliarden Mark, Dollar oder Pesos heute in ihren Computersystemen verschwunden sind. Und die New Yorker Aktienhändler konnten auch schon von neuem, zagem Aufschwung künden: Ihre Kurse stiegen gestern abend wieder um 1,7 Prozent an.

In Europa waren die Verluste beträchtlich. Der Deutsche Aktienindex (Dax) rutschte um gut acht Prozent auf 3.567 Punkte ab. Bei einem Gesamtwert aller Aktien an der Frankfurter Börse von derzeit gut 1,2 Billionen Mark entsprechen acht Prozent umgerechnet knapp 100 Milliarden Mark.

Und dabei hatten die in den letzten Jahren von einem in der Nachkriegszeit beispiellosen Börsenboom verwöhnten Aktienhändler kurz nach Beginn des Handels sogar weiter nach unten spekuliert. Denn die anderen Weltbörsen hatten teilweise größere Verluste vorgelegt. Doch schließlich besannen sich die Börsianer auf die derzeitige Situation der deutschen Konzerne: Die fahren nämlich weiterhin Gewinne ein wie noch nie. Warum die Kurse nun plötzlich ins Bodenlose fallen sollen, ist bei längerem Nachdenken doch nicht recht einsichtig gewesen.

Die prekäre Situation – von Medien und Börsenhändlern gestern auch Taifun, Erdrutsch, schwarzer Montag oder grauer Dienstag genannt – wurde von einem siebenprozentigen Kursverlust an der Wall Street ausgelöst.

New York hatte damit unerwartet stark auf die dauerhaft schlechten Vorgaben aus Hongkong reagiert. Dort versuchen Devisenhändler, den Hongkong-Dollar im Kurs zu drücken. Die Verwaltung von Hongkong stemmt sich mit der riesigen Volksrepublik China im Rücken gegen eine Abwertung. Heldenhaft will sie die Flucht aus ihrem Dollar verhindern, indem sie die Zinsen in die Höhe schraubt. Das hat viele Anleger dazu bewogen, Aktien zu verkaufen und das Geld auf das plötzlich lukrativere Sparbuch zu tragen. Seitdem fallen die roten China-Werte, gestern um 13,7 Prozent. Innerhalb einer Woche haben die dortigen Aktien nun ein Drittel ihres Wertes verloren.

Daß die Börsen der Welt Wall Street folgen würden, war klar. Überraschend waren allerdings einige regionale Ausreißer nach unten, vor allem in Lateinamerika. Mit einem Absturz in Brasilien oder Argentinien um 15 beziehungsweise 14 Prozent hatte niemand gerechnet.

Der Ruf der aufstrebenden neuen Börsenländer des Südens, neudeutsch „emerging markets“ genannt, scheint damit nachhaltig ruiniert zu sein. Die großen Anleger wie Banken oder Fonds flüchteten in die sicheren Staatsanleihen der USA und der europäischen Länder. Für die Kleinanleger war der Zug schon am Freitag abgefahren. Bis ihre eilig abgegebenen Orders von den Banken ausgeführt werden konnten, standen die Kurse längst im Keller.

Mehr als 500.000 neue Kunden sind im Laufe eines Jahres durch den Schub der Telekom-Aktie neu an die Börse gekommen. Sie kennen bisher fast nur steigende Kurse. Doch die meisten behalten die Nerven. „Wir haben kaum Panikverkäufe. Die Kundschaft reagiert relativ gelassen“, sagte gestern der Direktor des Bankhauses Aufhäuser, Fidel Peter Helmer. Bei Spitzenumsätzen orderten zwar 58 Prozent der Kleinanleger am Morgen Verkäufe, doch schon 42 Prozent wollten kaufen.

Die kleinen Börsenwurschtler können sich mit den Verlusten der Großen trösten. Banken, Versicherungen und andere Großaktionäre können ihre immensen Aktienpakete nicht an einem Tag auf den Markt werfen, weil sie sonst die betreffenden Aktien ins Bodenlose stürzen würden. Sie sind damit auch bei fallenden Kursen zum Halten nachgerade verdammt.

Bei den Verlusten voran schritt dabei Bill Gates: Der größte Aktionär des Software-Riesen Microsoft verlor am Montag 1,76 Milliarden Dollar. Microsoft war mit den anderen Werten abgesackt.

Gestern nachmittag mitteleuropäischer Zeit startete dann die Wall Street wieder mit dem Handel. Zunächst sackte der Dow-Jones-Index weitere 200 Punkte bis unter die 7.000er-Marke – für die in solchen Situationen psychologisch labilen Broker ein harter Schlag.

Dann aber setzten Aktienkäufe ein, die Kurse stiegen bis zum Mittag Ortszeit auf 7.270 Punkte. Sogar US-Präsident Clinton griff indirekt stützend ins Börsengeschäft ein. Es stehe ihm nicht an, die Entwicklung des Aktienmarkts zu kommentieren, sagte er zwar. Doch die US-Wirtschaft sei derzeit so stark und dynamisch wie seit einer Generation nicht mehr: „Wir müssen Vertrauen haben.“ Reiner Metzger

Tagesthema

Seiten 2 und 3

Unsere Kurve zeichnet den Verlauf des Frankfurter Dax seit 26. September nach. Er beginnt bei 4.080 Punken und erreicht am 8. Oktober mit 4.347 Punkten seinen Gipfel. Über ein letztes Zwischenhoch am Freitag, den 24.10., (4.050 Punkte) kippt die Kurve annähernd in die Senkrechte: Schlußkurs am Montag: 3.879, gestern: 3.567 Punkte. Zum Vergleich: Ins Jahr 1997 startete der Index mit lediglich 2.888 Punkten.

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