Vergebung mit Weinbrandbohnen

■ Raimund Hoghe, früher Choreograph bei Pina Bausch, war mit dem autobiographischen Solo „Chambre séparée“ zu Gast im Hebbel Theater

Unermüdlich schafft ein kleiner Mann im Dustern. Zwingt uns, über eine Stunde ins Dämmerlicht einiger Kerzen zu starren. Er tanzt langsam Walzer mit einem Lampion, hetzt mit verbundenen Augen zwischen den schwarz ausgeschlagenen Wänden und wirft mit Sandsäcken, die dumpf zu Boden platschen. Schon die Größe des Bühnenraums scheint eine unterschwellige Bedrohung und allmähliche Überforderung seines schmächtigen Körpers: Jeder Weg zwischen den kleinen Requisiten wirkt zu weit. Und doch ist Raimund Hoghe ständig zwischen Teelichtern und Diaprojektoren unterwegs, durchmißt den Raum kreuz und quer, auf und ab nach einem komplizierten Wegplan, der ihm keine Ruhe läßt. Einzig neben einer Teekanne legt er ab und zu Pausen ein und trinkt einen Schluck.

In diese düstre Kammer spielt Raimund Hoghe Erinnerungen an die Nachkriegszeit ein. „Somewhere Over The Rainbow“ singt Judy Garland, Marlene Dietrich erzählt von ihrer Sehnsucht nach Amerika, Doris Day schmachtet. Mit einem Diaprojektor läßt Hoghe Lichtbilder von Nathalie Wood oder Anthony Perkins über die Wände zittern. Gegen diese von Gefühlsaufwallungen bebende Hollywood-Kulisse setzt er in kurzen Lesungen Ausschnitte des eigenen Lebens: die Nähmaschine der Mutter in der Küche, Operetten im ersten eigenen Fernseher, Salzstangenpartys und Eisdielenbesuche. Es wäre gar nicht so ungemütlich in diesem mit Bildern großer Liebe tapezierten Fünfziger-Jahre-Mief, gäbe es da nicht Schmerzpunkte, die im Gespräch zwischen Mutter und Sohn nicht berührt werden dürfen: der abwesende Vater, dessen Spuren in Fotografien und Briefen die Mutter eifersüchtig hütet, und der bucklig gewachsene Rücken des Sohnes.

So wird dieser Buckel, den Hoghe im Kerzenlicht entblößt, zum festgewachsenen Symbol für alles, worüber man nicht spricht. In diesen Sack der Verdrängung packt er die Verleugnung von Auschwitz in der Wirtschaftswunderzeit ebenso wie die Abschiebepraxis der BRD heute. Ein Grund, nicht nur am eigenen Unglück, sondern an der deutschen Geschichte zu leiden, findet sich immer. So trägt er den Ballast unserer Sünden auf dem Rücken.

Tatsächlich schiebt sich die christliche Metaphorik heftig in Hoghes Bühnenrituale. Am Ende reicht er dem Publikum Tabletts mit Weinbrandbohnen, einst Geschenk des verschwundenen Vaters an die Mutter: Vergebung unserer Sünden mit Schokoladengeschmack? So ganz wohl scheint dem Erzähler seiner eigenen Geschichte nicht bei dieser Geste an das stumm sitzende Publikum.

Dieser Abend ist wie auch die bisherigen Solos von Raimund Hoghe einerseits so persönlich, daß man mit jeder Kritik befürchtet, ungebührlich auf der Leidensgeschichte eines Menschen herumzutrampeln. Andererseits erheben Stilisierungen und Rituale einen sehr unerquicklichen Anspruch auf die Heiligsprechung des Bühnengeschehens. Die wenigen berührenden Momente können den zähen Fluß der Langeweile nicht umkehren. Man bleibt sitzen, vielleicht aus Respekt vor dem ehemaligen Dramaturgen von Pina Bausch und um seinen Verletzungen nicht noch das Türenklappern während der Vorstellung hinzuzufügen. Aber man fühlt sich um seine Aufmerksamkeit erpreßt. Denn die Geschichte, die erzählt wird, ist bald begriffen. Katrin Bettina Müller