Ideale Idole

Bits & Bytes statt Fleisch und Blut: Die ersten virtuellen Popstars erobern die Festplatte  ■ Von Ulrich Gutmair

Kyoko Date ist ein ziemlich durchschnittlicher japanischer Teenager. Kyoko ist leicht kurzsichtig, liest Manga-Comics, zeichnet gern und hat einen Mittelschichtspapa, der nach der Arbeit an seiner Harley Davidson herumschraubt. Am 26. Oktober würde das Mädchen aus Tokio 18 werden, wäre sie nicht erst 1996 als Cluster von einigen Gigabyte auf superschnellen Computern errechnet worden. Sie ist der erste total digitale Popstar der Welt, eine neue Spezies, die eben dabei ist, Entertainment auf allen Formaten zu verändern. Ihre Kollegin Lara Croft kämpft gegen Gangster und allerlei Raubtiere auf den Festplatten von Heimcomputern, während aus Sonys PlayStation die Hits der Chemical Brothers et al. dröhnen.

Allein zehn Animationsspezialisten plagten sich ein halbes Jahr damit ab, Kyoko Date das Lächeln beizubringen. Inzwischen bewegt Kyoko in ihren Videoclips die 40.000 Polygone ihres Körpers, mit einigen Madonna-Tanzschritten ausgestattet, ziemlich geschmeidig durch New York und Tokio – und hat mit ihrer Single „Love Communication“ innerhalb weniger Monate den Markt männlicher Teenies erobert. Sie ist die virtuelle Variante einer aidoru kashu, wie die in Japan fabrikmäßig und massenhaft lancierten Girliepopstars genannt werden, Wesen, von denen jeder weiß, daß sie nur die menschlichen Oberflächen einer effizienten Kulturindustrie sind.

Das singende Tamagotchi

Nur zu Datenspenderzwecken und Sekundärfunktionen ist der Rückgriff aufs Grobstoffliche noch nötig. Hinter dem digitalen Interface Kyokos verbergen sich eine Tänzerin, deren Bewegungen mittels des Motion-Capture-Verfahrens in Daten konvertiert werden, eine Sängerin, die Kyokos Hitsingles einspielt, eine Sprecherin, die Kyokos Radioshow bestreitet, einige Menschen, die Kyokos Chats auf der eigenen Homepage verwalten, und vor allem die Spezialisten einer Talentagentur.

Kyoko Dates Mütter und Väter sind fleißige Büroarbeiter der japanischen Managementfirma Hori Productions, die 1995 an einer „neuen Form von Software für das Multimediazeitalter“ zu basteln begann. Als Basis der Unterhaltungssoftware von morgen sollten nicht mehr junge Frauen und Männer dienen, sondern das Know- how des Visual Science Laboratory, eines der führenden Häuser in Sachen Computeranimation in Japan. „Kyoko ist das, was wir uns unter einem idealen Idol vorstellen“, erklärt Vizepräsident Yoshitaka Hori, „den perfekten echten Menschen gibt es nicht. Manche singen gut, sehen aber nicht gut genug aus – und umgekehrt. Kyoko ist beides.“ Und: einmal errechnet, stellt sie nie wieder Honorarforderungen.

Rasterfahndung in der Zielgruppe

In Kyokos Welt bringt kein menschliches Versagen die Schlachtpläne von Marketingspezialisten durcheinander, und sollten egozentrische, drogensüchtige Stars Minderjährige verführen oder Hotelzimmer auseinandernehmen, dann wollte das die Marktforschung. Kyoko ist das Ergebnis intensiver empirischer Untersuchung der relevanten Zielgruppen, ihre Biographie die perfekte Mischung aus den Wünschen, Erwartungen und Lebenswelten ihrer Fans. Kyoko steht auf Christian Slater, Kyoko ißt gerne Süßigkeiten, Kyoko spielt Computergames auf dem Mac, surft via Windows 95 durchs Netz und muß neben ihrer Popkarriere immer noch in einem Fast-food-Restaurant arbeiten. Wir vermuten mal: McDonald's.

Während Kyokos Agentur noch den Markt erforschte, wurde William Gibson gerade rechtzeitig mit seinem Roman „Idoru“ fertig, um noch als Science-fiction-Autor durchzugehen. Sein – noch relativ menschlicher – Popstar Rez, dessen Figur durch Gibsons Bekanntschaft mit U2-Sänger Bono informiert wurde, geht eine vor allem fürs Geschäft vielversprechende Liaison mit seiner Kollegin Rei Toei ein.

Rei Toei ist wie Kyoko Date eine virtuelle aidoru kashu und in Gibsons Lesart eine Ikone modernen Marketings, immer auf Rasterfahndung in der Zielgruppe. Während die Agenten des BKA unter der Ägide des Sozialhygienikers und Computer-Nerds Horst Herold noch abweichendes Verhalten in der Gesellschaft studierten, durchdringen heute Trendscouts und „Intelligent Agents“ aus Bits und Bytes den Kundenpool. Was zur Zeit noch unter die Rubriken der Devianz, des Ephemeren oder der Geschmacklosigkeit fällt, könnte sich morgen schon als kulturell abgesichertes Konsumverhalten erweisen: Rei Toei, der Popstar als künstliche Intelligenz, verleibt sich die Daten, Wünsche und Visualisierungen ein, die ihre Fans im Internet hinterlassen, um von ihnen zu lernen.

Gibson reagierte mit „Idoru“ auf das Offensichtliche: Abgesehen von den völlig neuen Formen automatisierter Ausspähung potentieller Kunden, die das World Wide Web etwa Firmen wie Microsoft bietet (die sich angeblich gerade die Rechte an Kyoko Date gekauft haben), konvergieren die Systeme der digitalen Medien und die klassischen Märkte der Entertainmentindustrien unaufhaltsam – vor allem in der Form des Videogames. Während die Sounds von „Tekken“, einem Kung-Fu-Spiel auf Sonys PlayStation, von Londoner Drum-'n'-Bass-Produzenten bloß remixt wurden, rekrutierte man für den Soundtrack von „Wipe Out“ gleich von Anfang an das ganze Spektrum aktueller britischer Popmusik.

Mit „Tomb Raider“ schließlich wurde zum ersten Mal ein Spielcharakter wie ein Popstar promotet: Zur Einführung des Adventure Games wurden die Bauzäune europäischer Innenstädte mit dem Konterfei seiner Protagonistin Lara Croft beklebt.

Einiges am Joystick abverlangt

Weniger als diese Maßnahme dürfte aber die völlig neue Qualität dieses Hybrids aus Adventure Game, Ballerspiel und Animationsfilm tatsächlich zur Lara- Croft-Mania beigetragen haben. Der Spieler – und seit Lara Croft auch immer öfter: die Spielerin – befindet sich in der Rolle einer jungen Archäologin und kann die 3D-Figur bemerkenswert frei durch ebenfalls dreidimensionale Sets bewegen. Navigiert man Lara gegen eine Mauer, äußert sie ein zwischen den Zähnen herausgepreßtes „Uhhh“. Lara Croft verfügt außerdem über ein ziemlich differenziertes Repertoire von Bewegungen zwischen Kung-Fu-Kick, Tauchen und Fassadenklettern, das dem Spieler einiges an Training am Joystick abverlangt und ihn durch diverse antike Grabstätten von Ägypten bis Peru führt – immer auf der Suche nach Scion, einem verschollenen Schatz der Atlantis- Zivilisation. Mit Lara Croft konnte Sony die Grenzen seiner Kinderzimmerzielgruppe für die PlayStation signifikant in Zonen ausdehnen, die bisher den Popindustrien vorbehalten waren – nämlich dahin, wo junge urbane Erwachsene konsumieren. Bis zum Sommer 97 wurden weltweit 2,5 Millionen Kopien von „Tomb Raider“ verkauft. Bestes Indiz für die wachsende Popularität – neben den ebenfalls weiter kletternden Verkaufszahlen der PlayStation – dürfte Laras Erscheinen auf dem Cover des britischen Lifestyle-Magazins The Face sein, das wiederum die Haute Couture auf den Plan rief: Alexander McQueen schneiderte per cut & paste einen virtuellen Anzug, Jean Colonna ein Sommerkleid. Die französische Libération hob eine Lara Croft in James-Bond- Pose aufs Cover, angetan mit der unvermeidlichen Maschinenpistole (Uzi) und einem Bikini (Gucci). Auf der letzten U2-Tour schließlich spazierten Bono und Lara Croft frei nach Gibsons Drehbuch Hand in Hand über einen gigantischen Videoschirm.

Virtuelle Toilettengraffiti

Bonos Kollege Dave Stewart von den Eurhythmics wurde inzwischen mit dem Maßschneidern eines Popsong beauftragt, der Videoclip ist ebenfalls in Arbeit und wird vermutlich strategisch zum Erscheinen von „Tomb Raider II“ plaziert, das demnächst erscheinen wird. Mit den großen amerikanischen Studios wird bereits über eine Kinoproduktion verhandelt. Dort hat man mit diversen Disneyfiguren seit Jahrzehnten genügend Erfahrung mit virtuellen Charakteren gesammelt.

Lara Croft und Kyoko Date sind in erster Linie als Identifikationsobjekte für Mädchen konzipiert – was männliche Fans nicht davon abgehalten hat, die gepixelten Repräsentationen idealer Frauen noch idealer zu machen. Die digitale Form der neuen Stars macht ihre Manipulierung in Richtung Sexsymbole um so einfacher: Kids mit viel Geduld und einer Raubkopie von Photoshop haben auf Seiten mit Titeln wie „Nude Raider“ überall im Netz selbstgebastelte Lara-Croft-Bilder abgelegt, in denen Screen Shots aus dem Originalspiel mit naturgetreuen Brüsten und hie und da auch mit rosigen Schamlippen ergänzt werden.

Die Technologien von Copy & Paste haben gemäß der Doktrin der „integrierten Medien“ das Genre des Toilettengrafitto mit

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dem des Pin-ups in eins fallen lassen. Diese Umfunktionierung relativ sauberer Entertainment-Entitäten zu selbstgebastelten Sexsymbolen durch die User war vermutlich nicht im Sinne des Erfinders, kann aber umgekehrt den Kult um den neuen Star nur befördern.

Digitaler Wohnen in Studioblau

Daß die digitalen Technologien auch jenseits solcher Aneignungen völlig neue Möglichkeiten eröffnen, auf Do-it-yourself-Basis eine eigene, mehr oder weniger virtuelle Persona zu lancieren – und das unabhängig von den großen Konzernen –, beweist Digital Reiko bereits seit einigen Jahren. Reiko Chiba ist unübersehbar eine computer otaku, die ihr Appartement nur in unvermeidbaren Fällen und nie ohne ihr portables Powerbook verläßt.

Als Folge einer langen Krankheit verbrachte Reiko einige Jahre beinahe ausschließlich zu Hause. Jetzt, als erfolgreiche aidoru kashu mit einigen Hits, kann sie es sich leisten, ihre Wohnung in Studioblau anmalen zu lassen, um jederzeit auf Sendung gehen zu können: Die gewünschten Hintergründe werden einfach per Video hineingepastet. Sobald sie mit dem richtigen Equipment ausgestattet ist, will sie ihre Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen: Digital Reiko gedenkt, ihr weiteres Leben im Cyberspace zu verbringen.

Schon heute plaudert sie stundenweise auf zwei eigenen Chat- Kanälen mit ihren Fans, die ansonsten das digitale Zimmer Reikos im WWW besuchen. Aber auch wenn Reiko mit ihrer Punk-Attitüde den Reißbrettstars der Talentagenturen ihre eigene Version eines virtuellen Stars entgegensetzt, hat sie das Prinzip verinnerlicht, daß die Wünsche ihrer Fans die Details ihrer Persona bestimmen: Jeden Tag stimmen sie über Digital Reikos Outfit ab, selbstverständlich über die üblichen elektronische Kanäle, die für die Kids offensichtlich längst zur zweiten Natur geworden sind. Für die nächste Generation von UserInnen sind die Debatten um die neuen digitalen Kulturtechniken damit obsolet.

Auf die Frage, welche Rolle der Computer in ihrem Leben spielt, erklärt ihre Kollegin Kyoko Date stellvertretend für Millionen Teenager weltweit: „Ist der Computer irgend was Besonderes? Du bist nicht toll, wenn du mit einem Rechner arbeiten kannst, und umgekehrt bist du nicht doof, wenn du es nicht kannst. Wenn es darum geht, wie ich mit dem Computer umgehe: Ein Kühlschrank und eine Microwelle haben auch Computer eingebaut, oder? Ich denke nicht großartig darüber nach, ,wie ich mit dem Computer umgehe‘. Computer sind etwas, das einfach da ist, auch wenn du's nicht weißt.“