: Gesang für die verschwundene Liebe
Die Nische Araucan. In Lager 13.
Da waren lange Täler, schwarz wie die
anderen Verschwundenen. Es wurde so
berichtet: Flugzeuge aus dem Süden durchpflügten
den Himmel und leuchteten nach Abwerfen
der Bomben auf die eigenen Städte kurz auf
und fielen. Sie sind den Lagern zugeordnet,
mit einem Grabstein und einer Gedenktafel.
Mit Kalk wurden die Überreste ausgelöscht,
und nur die letzte Wunde blieb.
Amen. Alle weinten.
Es war schwer, daran zu denken. Amen.
Die Nische USA. In Lager 12.
Land des Nordens, und dazu bestimmt,
einander zu zerfleischen wegen Träumen
von Raumschiffen, ermordeten Schwarzen
und Hunger. Weiter unten waren die
Himmel, und man nannte sie Hiroshima
in den Ländern der Fülle; Länder der Mitte,
chilenische Täler und Verschlinger.
Alles ist Nacht im Grab, sagen sie im
amerikanischen Grab. Es ruht wie der
Büffel in Frieden. Ein Satz der Cheyenne.
So steht es geschrieben. Amen.
Südamerikas Länder weinen.
Alle genommen bei Tag, leidende
und einander zerfleischende Länder in den Nischen
von Lager 13. In den Wüsten, indianischen
Städten und Welten begannen sie
mit ihren Massakern, und es gab kein
Pardon, keine Befreiung, kein Gesetz. Sie
starben an Hunger nach Liebe in Träumen,
die bekannt und benannt waren. Sie liegen
und ruhen in Frieden. Nachts leuchtet ihr
Phosphor, und sie erheben Klagelieder.
Quelle und Anklage sind notiert. Amen.
Die Nische Amazonien: aus der Dunkelheit und
dem Spiel der Schatten dem Lager zugeschrieben,
sichtbar mit Korridor und Ort.
Alles hing nieder in den Ländern Perus
und Brasiliens. Von der Begegnung bleibt
nur das Blut, die Wüsten von São Paulo
und der Himmel über Amazonien,
hieß es. Es hieß, es soll ein
Fluß aus Blut gewesen sein und Paraguay.
Das Blut pulsiert noch immer durch seine
Gedenktafel. Es sagt: bleib, bleib. Amen.
Nein, es sagt das Datum. Nein, es sagt nur: Kreuz.
Raúl Zurita
Der chilenische Dichter Raúl Zurita blieb 1973 im Land und erlebte die schlimmsten Jahre der Diktatur unter Pinochet. Die grauenvollen Massaker und das „Verschwinden“ von Menschen haben sich qualvoll in seine Dichtung eingeschrieben. Er schrieb zunächst in einer abstrakten, danteschen Diktion (siehe auf deutsch: „Vorhimmel“), um damit die Zensur zu unterlaufen. In „Canto a su amor desaparecido“ („Gesang für die verschwundene Liebe“; Editorial Universitaria Santiago, 1987) wird seine Sprache wesentlich direkter. Der vorstehende Text gibt vier der wie Grabinschriften angeordneten Texte wieder – im Original sind es sechs pro Seite.
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